Amokspiel
Kabine war nicht für den Daueraufenthalt von so vielen Menschen ausgelegt, und die sechs Geiseln produzierten gerade ein Gemisch aus Angstschweiß, Adrenalin und Körperwärme, das von der Lüftungsanlage viel zu langsam aus dem Raum gesogen wurde. Obwohl Jan schon lange die Proletenperücke abgenommen und sich von den meisten verunstaltenden Verkleidungsutensilien getrennt hatte, schwitzte er in seinem Trainingsanzug und musste sich regelmäßig die Stirn abwischen. Letzteres konnte aber auch daran liegen, dass die Beruhigungstabletten langsam ihre Wirkung verloren, die er vorhin auf dem Weg zum Sender eingenommen hatte. Die Dosis war auf vier Stunden berechnet. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es länger dauern würde. Über den Tod einer Geisel hinaus. Doch jetzt war bereits die dritte Stunde angebrochen, und der zweite Cash Call stand kurz bevor. Ira zeigte sich kooperativ und unvoreingenommen. Aber ganz offensichtlich war niemand dort draußen, der sie mit den wirklich relevanten Informationen versorgte. Er musste noch mehr Druck machen. Und das bedeutete: Irgendetwas lief hier schief!
Jan wollte sich gerade im Nebenraum ein Glas Wasser holen, als Sandra, die schwangere Rothaarige mit dem behinderten Sohn, vom Hocker rutschte und sich lauthals beschwerte: »Ich muss mal.«
Er musterte sie von oben bis unten, dann nickte er mit dem Kopf in Richtung Studioküche.
»Da drin gibt es eine Spüle. Mehr kann ich Ihnen nicht anbieten.«
»Und wie soll das gehen? Ich bin doch keine Trickpinkle-rin«, sagte sie, ging aber trotzdem auf ihn zu. Seitdem er den UPS-Fahrer beseitigt hatte, war sie die einzige der Geiseln, die sich noch traute, mit ihm zu sprechen. Timber starrte ebenso wie der Buchhalter ängstlich auf den Boden, das Pärchen aus Marzahn hielt sich aneinander fest, und Flummi reihte stoisch ein Musik-File an das nächste. Jan erlaubte ihm dabei, Rücksprache mit Timber zu halten. Normalerweise plante ein Computer die gesamte Musik, doch für Timbers Morgensendung gab es keine Playlist. Der Star-Moderator durfte als Einziger im Sender seine Songs noch von Hand zusammenstellen. Ein Privileg, das ihm so lange gewährt wurde, wie die Quoten stimmten.
»Das haben Sie bei Ihrem Plan wohl übersehen, was?«, fauchte die Krankenschwester. »Geiseln müssen hin und wieder mal auf Toilette.«
Jan wunderte sich. Es war so, als ob alle nicht auffallen wollten, um ja nicht in die engere Auswahl für die nächste Spielrunde zu fallen. Alle bemühten sich darum, möglichst unsichtbar für Jan zu werden. Alle, bis auf Sandra. »Was ist los?«, flüsterte sie Jan zu, als sie sich an ihm in die Küche vorbeidrängte. »Warum dauert das so lange?« Er sah sie ärgerlich an und legte fast schon reflexartig einen Finger auf seine Lippen.
»Keine Angst. Alles im Griff«, flüsterte er zurück und stieß sie in den Nebenraum.
»Und bringen Sie mir bitte ein Glas Wasser mit«, rief er, während er die Tür hinter Sandra zuzog. Als er sich dann wieder in Richtung des Mischpultes umdrehte, registrierte Jan aus den Augenwinkeln heraus, dass auch der Buchhalter für einen kurzen Augenblick aus seiner Rolle fiel. Er saß nur zwei Schritte von ihm entfernt an der Studiotheke und sah aus, als ob sich sein Körper nicht zwischen leiser Ohnmacht oder einem offenen Nervenzusammenbruch entscheiden könnte. Doch ganz plötzlich hörte sein Zittern auf. Seine Atmung wurde ganz ruhig, und er sah auf die große Studiouhr an der gegenüberliegenden, mit grauem Stoff bezogenen Schallschutzwand. Nur noch dreißig Minuten bis zur nächsten Runde.
Als Theodor Wildenau seinen Kopf in Jans Richtung drehte, verkrampfte sich dessen Magen wie der Körper bei einer unerwartet kalten Dusche. Jan hatte Angst. Un-bändige Angst, der Mann würde etwas sagen. Jetzt schon. Viel zu früh!
Aber der Buchhalter blieb ruhig. Schüttelte kaum merklich seinen fast kahlen Kopf. Sah dann nach unten auf den Teppich. Und fing einen Moment später wieder an zu zittern.
Jan sah sich im Studio um. Erleichtert atmete er aus. Keiner der anderen hatte etwas bemerkt.
9.
Ein Stockwerk tiefer stand Diesel fröhlich singend in der Buchhaltung von 101Punkt5 und fräste mit einem Schweißbrenner ein Loch in den Dokumententresor. Natürlich hätte er auch offiziell um Erlaubnis fragen können. Vermutlich wäre der Verwaltungschef des Senders sogar mit den passenden Schlüsseln herbeigeeilt. Aber eben nur vermutlich. Mit dem Schneidbrenner konnte er sicher und schneller
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