Amokspiel
meinen Straßen passiert sein soll, wüsste ich's.«
»Es stand in der Zeitung.«
»Da steht auch drin, dass jede zweite Frau Sex mit einem Fremden haben will, und mich hat noch nie eine gefragt.«
»Und was sagst du dann dazu?«
Diesel drehte das Papier aus seiner Jacke um und schob es ihm rüber. Es war eine Farbkopie, die er sich vorhin im Sender vom Unfallfoto aus der Akte gemacht hatte. »Geil, was willst du dafür?«
»Das ist keine >Karte<, Habicht. Ich will wissen, was du mir zu diesem Unfall sagen kannst?«
»Keine Ahnung.« Der Verkehrspilot starrte verzückt auf das Blatt in seinen Händen. Wahrscheinlich heftete er es im Geiste bereits in einen neuen Sammelordner.
»Kenn ich nicht. Ehrlich. Aber wenn du willst, könnte ich es mal checken.«
Jetzt lachte Diesel. Na klar. »Checken« bedeutete, er würde damit vor seinen Kumpels angeben. Egal. Sollte er es ihnen per E-Mail schicken. Einen Versuch war es wert. »Aber eins kann ich dir jetzt schon verraten.«
»Was?«
»Das war niemals am neunzehnten September. Und auf gar keinen Fall an dieser Stelle.«
»Wieso bist du dir da so sicher?«
»Komm mit. Ich zeig's dir ...«
Mit diesen Worten stand er auf, und Diesel sah ihm nach, wie er zum Ausgang ging. Richtung Rollfeld.
Ira war von einer einfachen Wahrheit felsenfest überzeugt: Der Mensch war umso glücklicher, je mehr er verdrängen konnte. Ihr Unglück begann, als bei ihrer Tochter die Anzeichen zu deutlich wurden und Iras Verdrängungsmechanismus versagte.
»Sie war vierzehn. Und ich erwischte sie im Bett.« Ira sprach sehr leise, obwohl sie in der Verhandlungszentrale allein war. Das war doppelt paradox, da ihr in diesem Augenblick etwa neunzehn Millionen Menschen zuhören konnten, ganz egal wohin sie sich zurückzog. Nahezu jeder größere Radiosender der Republik übertrug das Programm von 101Punkt5 auf der eigenen Frequenz. Zahlreiche Internetplattformen forderten auf ihren Startseiten die Leser auf, die richtige Parole zu lernen. Sogar das deutschsprachige Inselradio auf Mallorca informierte die sonnenbadenden Urlauber. Ira ignorierte den unangenehmen Gedanken, dass jedes Wort zwischen ihr und Jan bald in zahlreichen ausländischen Medien verbreitet werden würde.
»Okay. Vierzehn ist vielleicht etwas frühreif. Aber ist das nicht in Großstädten das Durchschnittsalter fürs erste Mal?«, fragte Jan. »Zu dritt?«
Sein Kommentar auf Iras knappen Einwand war ein kurzes Grunzen in der Art, wie es Männer von sich geben, wenn sie über einer geöffneten Motorhaube stehen und nicht zugeben wollen, dass sie keinen blassen Schimmer haben, wo das Problem liegt.
»Ich hab mich immer für, wie sagt man, >aufgeschlossen< gehalten«, erläuterte Ira. »Ich bildete mir sehr viel auf meine unkomplizierte Einstellung ein. Meine Eltern hatten mich schließlich sehr frei und offen erzogen. Mein erster Freund durfte vom ersten Tag an bei mir übernachten. Mit meiner Mutter sprach ich sogar über Orgasmusprobleme.« Sie änderte den Tonfall und wurde mit jedem Wort schneller. »Nicht, dass Sie denken, ich entstammte einer alternativen Hippie-Familie, bei der mein Vater immer nackt mit einem Joint im Mund zur Haustür gelaufen wäre, um Wildfremde reinzulassen. Nein. Es war einfach nur ungezwungen, und zwar nicht in der schmierigen Bedeutung, die das Wort in Kontaktanzeigen besitzt. Als ich zum Beispiel mit siebzehn meine experimentelle Phase auslebte, durfte ich problemlos eine Freundin über Nacht mit nach Hause bringen. Ich schwor mir damals, es später bei meinem Kind genauso zu machen. Und als Sara in die Pubertät kam, fühlte ich mich innerlich auf alles vorbereitet. Die Pille, vielleicht ein Outing als Lesbe oder einen erwachsenen Freund. Ich dachte, ich könnte mit allem klarkommen.«
»Sie haben sich geirrt?«
»Ja.« Wie selten jemals zuvor.
Ira überlegte, wie viel sie wirklich preisgeben musste, damit Jan wieder Vertrauen gewinnen würde. Saras ständig wechselnde Geschlechtspartner. »Spielzeug«, das garantiert nicht unter das Bett eines Teenagers gehörte. Ihr offenes Geständnis beim Frühstück, sie könne nur unter Schmerzen zum Orgasmus kommen. Wenn sie die Details wegließ, würde er merken, dass sie ihn mit Allgemeinplätzen abspeiste. Schlimmer noch. Er würde sie nicht verstehen. Und aus irgendeinem Grund wurde ihr schmerzlich bewusst, wie sehr sie sich wünschte, endlich von jemandem verstanden zu werden.
Am besten ich schildere ihm einfach mein Schlüsselerlebnis,
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