Amokspiel
bleiben, nahm sie nun doch wieder zwei Stufen auf einmal. Es war ihr gleich, was ihr Körper dazu sagte. Die Wut putschte sie auf. Und wenn sie im neunzehnten Stock hyperventilierend zusammenbrach. Was soll's? Sie ignorierte absichtlich alles, was sie über psychologisch zurückhaltende Verhandlungstaktik gelernt hatte, und sprach Klartext: »Das ist Quatsch, Jan, und das wissen Sie. Ich habe mir heute keinen Fehler zu Schulden kommen lassen. Ich bin für die Rufumleitung nicht verantwortlich. Aber wissen Sie was? Mir ist völlig egal, was Sie denken. Wenn Sie nicht mehr mit mir reden wollen, bitte, ich besorge Ihnen einen anderen Unterhändler. Herzberg langweilt sich sicher schon. Nur eines sollte Ihnen klar sein: Zurzeit bin ich die Einzige, die zwischen Ihnen und einem Stoßtrupp steht, der nur darauf wartet, Ihnen eine Kugel durch den Kopf zu jagen, sobald Sie auch nur einen einzigen Fehler machen. Und der kommt früher oder später. Eher früher. Sobald Ihnen die Geiseln ausgehen.«
Die letzten Worte keuchte sie nur noch, dann konnte sie den Hustenanfall nicht mehr unterdrücken. Sie fing sich erst wieder, als sie im Fahrstuhlbereich des neunzehnten Stocks stand. Ihre Lunge brannte, und ihre Oberschenkelmuskeln waren taub vor Anspannung. Doch am meisten schmerzten sie wieder die Worte von Jan: »Sie sagten, Sie hätten heute keinen Fehler gemacht. Und wie war das am zwölften April?«
Ira schlurfte erschöpft zum geöffneten Empfang des Radiosenders, in Richtung Verhandlungszentrale. Alles um sie herum drehte sich.
»Warum sollte ich ausgerechnet Ihnen das erzählen?«, fragte sie schließlich. Warum willst du unbedingt über den zwölften April reden? Was hat der Tod meiner Tochter hiermit zu tun.
»Warum sollte ich ausgerechnet Ihnen wieder vertrauen?«, kam die Gegenfrage.
»Okay ...« Ira passierte zwei uniformierte Beamte am Sendereingang, von denen sie keine Notiz nahm. ». dann machen wir einen Deal. Ich sage Ihnen, was sich meine Tochter angetan hat, und Sie lassen Sandra Marwinski in Ruhe.«
»Schlechtes Geschäft. Sie brauchen doch sowieso jemanden, mit dem Sie über Sara reden können. Welchen Vorteil habe ich davon?«
»Eine Geisel mehr. Ich verlange nicht, dass Sie sich an Ihre eigenen Regeln halten und jemanden freilassen. Wir zählen die Runde einfach nicht. So gewinnen wir Zeit für die Suche nach Leoni, und Sie haben eine Geisel in Reserve.« Ira war wieder in Diesels Büro angelangt. Die Verhandlungszentrale war verlassen. »Also schön.«
»Abgemacht?«
»Nein, noch nicht. Erst reden wir über Sara. Dann entscheide ich mich, ob ich Ihnen noch vertraue.« Ira sah aus dem Fenster hinunter auf die abgesperrte Potsdamer Straße. Auf dem grünen Mittelstreifen stand eine Glasvitrine, in der drei Plakate rollierten. Eines warb für Zigaretten. Selbst von hier oben war der fett gedruckte Warnhinweis zu lesen: Rauchen tötet.
»Ira?«
Selbst wenn sie nicht so ausgelaugt und müde gewesen wäre. Selbst wenn sie in diesem Moment die Kraft dazu gehabt hätte. Es ging nicht. Sie wollte einfach nicht darüber reden. Nicht über die Nacht, in der sie heimlich Saras Tagebuch gelesen hatte, um ihre älteste Tochter wenigstens im Ansatz zu verstehen. Die Männer. Die Gewalt. Und Saras Sehnsucht.
»Sind Sie noch dran?«, fragte Jan erbarmungslos. Nein. Sie wollte nicht darüber sprechen. Aber sie hatte wohl keine andere Wahl.
21.
Das Einzige, was bei ihm an einen Piloten erinnerte, war sein Name. Habicht hatte Fettringe am Bauch, einen David-Copperfield-Hals (er war weggezaubert) und ein kleines Haarbüschel, das er mit einem Gummi im Nacken zu einem Rasierpinsel zusammengebunden hatte. »Was willst du denn hier in der Pampa?«, lachte er. Das war so eine Art Tick von ihm. Habicht lachte eigentlich immer. Meistens grundlos. Diesel vermutete, dass er mit seinem Verkehrsflieger zu oft unter Sauerstoffmangel geflogen war. Vielleicht war er aber auch einfach nur irre. In diesem Augenblick saßen sie beide in Habichts Büro am Flughafen Schönefeld. Der Pilot hinter einem völlig überladenden Schreibtisch, Diesel auf einem Metallklappstuhl, der so bequem war wie ein Einkaufswagen. »Ich sag's nur ungern. Ich brauche deine Hilfe.«
Eigentlich hatte ihn Götz damit beauftragt, den Fahrer des Rettungswagens zu besuchen, der damals als Erster an der Unfallstelle eingetroffen war. Doch im Krankenhaus Waldfriede, wo der Sanitäter jetzt arbeitete, wollte ihm niemand eine Auskunft geben. Er war noch nicht
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