Amokspiel
Sie?«
»Ich suchte natürlich nach einer Ursache für ihr Verhalten. Als Mutter wollte ich eine logische Erklärung. Da lag die Vermutung auf Missbrauch nahe. Ich ging alle Personen durch, die in Frage kamen. Doch sie stritt alles ab.
Sie lächelte sogar und sagte: >Nein Mami, ich bin nicht vergewaltigt worden. Aber ja, es stimmt. Es gibt jemanden, der mir etwas angetan hat. Du kennst ihn. Sogar sehr gut.<«
»Wen?«
»Ich weiß es nicht. Genau das macht mich ja so wahnsinnig.« So wahnsinnig, dass ich eigentlich nur eine Cola light Lemon haben will, um endlich die Kapseln schlucken zu können, die in meinem Gefrierfach liegen. Doch zuvor muss ich noch meine letzte Tochter gegen ihren Willen befreien.
»Sie sagte sogar, ich würde es herausfinden.«
»Wie war der genaue Wortlaut?«
Ira wunderte sich kurz über die Frage. Aber schließlich sah sie keinen Grund darin, es ihm zu verschweigen. »Nun, ich glaube, Sara sagte so etwas wie: >Mach dir keine Sorgen, Mami. Bald wirst du wissen, wer mir das hier angetan hat. Und dann wird alles gut.<« Ira schluckte. »Aber es wurde nie gut. Es wurde immer schlimmer. Ich habe es nie erfahren, verstehen Sie?« Eine Weile schwiegen beide.
Der Moment dauerte nicht lang, war aber ausreichend, um Ira klarzumachen, wie kurz sie vor einem Kollaps stand. Ihre Hände zitterten wie die eines Parkinsonpatienten, und der Schweißfilm auf ihrer Stirn verdichtete sich zu perlengroßen Tropfen.
»Die, die wir am meisten lieben, sind uns das größte Rätsel«, stellte der Geiselnehmer in der Sekunde fest, in der Ira sich fragte, ob Götz ihr später etwas zu trinken besorgen würde. Ewas Richtiges.
Sie war über die plötzliche Verzweiflung in Jans Stimme so irritiert, dass sie etwas machte, was sie in den letzten fünfzehn Minuten nicht mehr getan hatte. Sie öffnete die Augen.
»Jetzt sprechen wir aber nicht mehr über meine Tochter, oder?«
»Ja«, bestätigte Jan leise, und da wusste sie es.
Sie hatte eben einen hohen Preis dafür zahlen müssen.
Aber es war ihr gelungen.
In dieser Runde würde Jan keine Geisel erschießen. »Sie haben Recht«, bestätigte er noch mal. Diesmal etwas lauter. »Jetzt reden wir über Leoni.«
23.
Die Verhandlungszentrale war weiterhin verwaist. Herzberg und der Albinotechniker waren kurz aufgetaucht, doch Ira hatte sie mit wütenden Armbewegungen wieder hinauskomplimentiert. Egal, wie viele ihr gerade zuhörten - beim Telefonieren musste sie allein sein. Das war schon immer so gewesen. Sie konnte es nicht leiden, wenn noch jemand im Raum war. Ein Tick, der ihr die Arbeit als Vermittlerin nicht gerade erleichterte. Bei den Einsätzen musste sie sich wohl oder übel an die Anwesenheit eines ganzen Teams gewöhnen. Was sie privat aber nie davon abhielt, die Tür hinter sich zu schließen, sobald jemand anrief. Und das war hier ja wohl ein privates Gespräch. Das intimste, das sie je geführt hatte. Iras Blick fiel auf den Rollcontainer unter Diesels Schreibtisch. Sie ging durch den Raum, während sie Jan weiter über die Freisprechanlage zuhörte.
»Jeder, der uns im Leben etwas bedeutet, bleibt uns wenigstens zum Teil für immer verschlossen, Ira.« Seine Stimme klang nachdenklich, nach innen gekehrt. Wie ein Wissenschaftler, der mit sich selbst redet, um die Lösung eines Problems zu finden. »Wenn Sie das verstehen, was ich Ihnen gleich erzähle, werden Sie Leoni schneller finden können. Und es wird vielleicht sogar das letzte Rätsel lösen, das Ihre Tochter Ihnen aufgab.« Ira verkniff sich jeden Kommentar, um seinen Redeschwall nicht zu unterbrechen. Außerdem war sie kurzfristig etwas abgelenkt. Eine angebrochene Flasche Single Malt stand zwischen einem Boxhandschuh und einem Pokal für »Miss Wet-T-Shirt« in der ausgezogenen Schublade.
Vielleicht bin ich ja nur deshalb froh, dass keiner hier ist, schoss es Ira durch den Kopf. Weil ich wusste, was Diesel für mich in seinem Schreibtisch bereithält. »Nehmen wir zum Beispiel die Ehe«, sprach Jan weiter. »Ich habe während meiner Sitzungen immer wieder dieselben Erfahrungen gemacht: Je erfüllter eine Partnerschaft ist, desto stärker ist das Geheimnis ihrer Liebe. Nichts ermüdet mehr als eine Geschichte, deren Ausgang wir schon kennen. Und nichts schweißt so sehr zusammen wie ein großes Fragezeichen. Was denkt mein Partner wirklich? Wird er mir ewig treu sein? Teile ich mit ihm jede Empfindung, oder gibt es Gefühle, die er vor mir verschlossen hält? Wenn wir ehrlich sind,
Weitere Kostenlose Bücher