Amokspiel
Schläfen in die Augen lief und sich dort mit ihren Tränen vermischte. Eine Hälfte von ihr bettelte, dass Jan endlich abnehmen möge. Die andere wollte auflegen, weil sie sich zu sehr vor einer schrecklichen Wahrheit fürchtete. Was ist mit Kitty?
Das achte Freizeichen wurde endlich unterbrochen. Zuerst hörte sie es nur rascheln. Dann fiel das erste Wort. »Hallo?«
Ira hatte noch nie zuvor zwei derart gegensätzliche Emotionen zugleich empfunden: Glück und Trauer, Freude und Entsetzen, Erleichterung und Panik. Sie spürte alles gleichzeitig. Ausgelöst von einem einzelnen, zaghaften Wort ihrer Tochter. Er hatte Kitty drangehen lassen. Sie lebte also noch. Doch damit war sie dem Tod nie näher als jetzt.
»Bist du okay, Liebes?«
»Das ist nur deine Schuld, Mama«, schluchzte Kitty. Sie war völlig außer sich. »Ich war so sicher in meinem Versteck, aber du musstest ja .«
»... mein Vertrauen missbrauchen«, ergänzte Jan, der Kitty den Hörer entrissen hatte. »Darf ich fragen, was das soll? Haben Sie etwa Ihre eigene Tochter als Spionin eingeschleust?«
»Müssen wir darüber wirklich jetzt im Radio reden?«, fragte Ira, die plötzlich realisierte, dass auch dieses Gespräch wieder live über den Äther ging. »Wieso nicht? An den Regeln hat sich nichts geändert. Alles, was wir besprechen, soll jeder hören. Also, was bedeutet das hier, Ira? Und sagen Sie mir nicht, es wäre Zufall.«
»Ist es aber. Ich wusste bis heute gar nicht, dass meine Tochter als Aushilfe im Radio arbeitet. Sie wurde von Ihnen übersehen und in der Senderküche eingeschlossen.« Ohne dass Jan auch nur ein einziges Wort sagte, spürte Ira, wie sehr sie ihn verloren hatte. Also entschloss sie sich zum Gegenangriff, solange sie dazu noch Zeit hatte. Gleich würde Steuer kommen und sie abziehen. »Und warum sollte ich Kitty denn überhaupt bei Ihnen einschleusen? Und wie hätte ich das schaffen können? Nein. Sie war nur aus Versehen zur falschen Zeit am falschen Ort. So wie der UPS-Fahrer. Hab ich Recht?« Wenn sie ihn nervös gemacht haben sollte, so ließ er sich das nicht anmerken. »Sie reden zu viel«, knurrte er. »Geben Sie mir meine Tochter noch mal.«
»Ich glaube, Sie sind nicht in der Situation, Forderungen zu stellen, Ira.«
»Bitte.«
Jans folgende Worte konnte sie kaum verstehen. Seine Stimme kam von viel weiter weg. Er musste den Mikrophongalgen von sich weggeschoben haben. »Sie will nicht mit Ihnen reden«, erklärte er.
»Kitty, wenn du mich hörst, dann .«
»Und sie kann Sie auch nicht mehr hören.« Jans Stimme war jetzt wieder klar und deutlich. »Ich habe die Lautsprecher im Studio ausgeschaltet und trage als Einziger einen Kopfhörer. Ihnen ist doch eines klar, Ira. Das hier wird unser letztes Telefonat sein. Das wissen wir beide.« Iras Hand verkrampfte sich im rechten Hosenbein ihrer Cargo-Hose.
Aus purer Nervosität riss sie den Druckverschluss einer großen Außentasche am Oberschenkel auf und steckte ihre geballte Faust hinein. Am liebsten hätte sie jedes bewegliche Glied ihres Körpers mit einer Zwangsj acke fixiert, um wenigstens äußerlich etwas Ruhe zu gewinnen. Gegen den Kampf, der in ihr tobte, würde auch das nichts helfen.
»Es sind nur wenige Stunden vergangen, aber Sie haben ganze Arbeit geleistet: Niemand will Sie mehr hier. Die Einsatzleitung muss Sie jetzt abziehen, da Sie persönlich involviert sind. Ich fühle mich von Ihnen hintergangen. Keiner will mehr mit Ihnen reden. Selbst Ihre eigene Tochter schüttelt heftig mit dem Kopf, wenn ich sie ans Telefon holen will. Können Sie mir sagen, wie Sie das geschafft haben, Ira?«
Ira zuckte zusammen. Die Tür zur Verhandlungszentrale war aufgeflogen. Steuer polterte mit schweren Schritten herein. Seine Haare klebten schweißnass auf seiner Stirn. Er kam mit zwei uniformierten Beamten im Gefolge. Noch sagte er nichts. So dumm war er nicht, sie vor laufenden Mikrophonen zu verhaften. Aber er brachte sich schon mal in Position. Was immer Ira jetzt noch tun konnte, um ihrer Tochter zu helfen, ihr blieb dafür nur noch dieses letzte Telefonat.
»Hören Sie, Jan, Sie sind Psychologe. Sie müssen meine Tochter freilassen.«
»Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?«
»Meine Tochter hat das Trauma von Saras Selbstmord nicht überwunden. Sie redet seitdem nicht mehr mit mir.«
»Das merke ich. Gibt sie Ihnen die Schuld?«
»Ich fürchte, ja.«
»Warum?«
Ira schloss die Augen. Gesprächsfetzen ihrer letzten Unterhaltung mit Sara
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