Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Amokspiel

Amokspiel

Titel: Amokspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
Vom Netzwerk:
vermeintlich »weicheren« Mitteln.
    Sara liebte Blumen. Auch aus diesem Grunde passte sie in das statistische Muster, als sie sich mit gelbem Oleander das Leben nahm.
    Ira schilderte Jan die letzten Minuten: »Ich hörte das Wasser in die Wanne laufen. Ihre Stimme war ganz ruhig. Aber völlig klar. Also fragte ich Sara: >Du wirst dir doch nichts antun, Kleines?< Sie sagte: >Nein, Mami.< >Willst du dir etwa die Pulsadern aufschneiden?< Auch diese Frage verneinte sie. Stattdessen sagte sie mir, ich solle mir keine Sorgen machen. Sie würde mich lieben, ich hätte nichts falsch gemacht. Ich versprach ihr, so schnell wie möglich zu ihr nach Hause zu kommen. Sie lebte mit einem alten Schulfreund, Marc, in einer Art Wohngemeinschaft, in einer kleinen, aber sehr schönen Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in Spandau. Das Badezimmer befand sich oben, im zweiten Stock des Appartements. Mir war klar - wenn sie sich etwas antun würde, hätte ich keine Chance mehr. Allein die Taxifahrt vom Lehrter Bahnhof nach Spandau würde eine halbe Stunde dauern, und mein Zug war erst vor fünfzig Minuten von Hannover abgefahren.«
    »Wo war ihr Freund, dieser Marc?«, fragte Jan. »Arbeiten. Ich habe auf dem Begräbnis kurz mit ihm gesprochen. Er schien sich große Vorwürfe zu machen und war vor Trauer ebenso gelähmt wie ich. Ich bin mir bis heute nicht über ihr Verhältnis im Klaren. Sie wissen ja, wie Sara war. Ich hielt Marc immer für asexuell. Anders kann ich es mir nicht vorstellen, wie er seit einem Jahr die Wohnung mit ihr und vermutlich auch mit all den anderen Männern teilte.«
    »Und Sara hat Sie angelogen, als sie sagte, sie würde sich nichts antun?«
    »Nein. Sie hat die Wahrheit gesagt. Der Fehler lag bei mir. Kennen Sie nicht den Lehrbuchfall von dem Lebensmüden auf dem Fenstersims?«
    Es war wirklich passiert. Ein Polizist hatte mit einem »Springer« eine Stunde verhandelt und ein gutes Vertrauensverhältnis zu ihm aufgebaut. Dann machte er einen großen Fehler. Er sagte: »Also schön, dann bringen wir das mal zu Ende. Ich will, dass Sie jetzt zu mir herunterkommen.« Der Selbstmörder kam. Er prallte direkt vor den Füßen des Polizisten auf den Bürgersteig. »Ich habe nicht auf meine Worte geachtet. Aus Angst vor einer grausamen Antwort stellte ich schwammige Fragen.
    >Du wirst dir doch nicht die Pulsadern aufschneiden ?<, >Du wirst doch keine Tabletten nehmen?< Nein, das würde sie nicht. Nicht mehr. Sie hatte es nämlich bereits getan. Als ich merkte, wie ihre Stimme schwerer wurde und sie plötzlich unruhiger atmete, wusste ich, es war zu spät. Sie brachte sich um. Und zwar mit ganz gewöhnlichen Samenkapseln, erhältlich in jedem Pflanzengeschäft.«
    »Digoxin«, ergänzte Jan.
    »Richtig.« Der Samen des gelben Oleanders war unter Selbstmördern zu trauriger Berühmtheit gelangt, seitdem zwei Mädchen in Sri Lanka aus Versehen die hochgiftigen Kapseln gegessen hatten. Ein Samenkorn enthält die hundertfache Dosis eines hochwirksamen Medikamentes gegen Herzkrankheiten. Nur eine einzige Kapsel führt mit fast hundertprozentiger Sicherheit zum Tode, indem es das Herz immer langsamer schlagen lässt, bis hin zum vollständigen Stillstand. Dass Sara sich zudem die Pulsadern aufgeschnitten hatte, war lediglich ein zusätzlicher Beweis ihres festen Willens, aus dem Leben zu scheiden. Ira wunderte sich über ihre Beherrschung. Ihr rechtes Bein zitterte zwar, als hätte jemand eine Elektrode an ihren Wadenmuskel angelegt. Doch sie musste nicht weinen oder schreien. Wenn sie allein in ihrer Wohnung über das letzte Gespräch mit Sara nachdachte, führte der psychische Schmerz meistens zu einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit. Sie lag paralysiert auf dem Bett, blieb wie festgeschraubt vor dem geöffneten Kühlschrank stehen oder lag stundenlang in der Badewanne, während das Wasser schon kalt war. Sie empfand es dann immer noch als wohltuend, da ihre innere Kälte weitaus größer war. Jetzt, wo sie zum ersten Mal darüber sprach, konnte sie sogar gleichzeitig den Hörer halten, mit ihrer Hand in der Hosentasche wühlen und ihren Kopf zu Steuer drehen, der sie unerwartet mitleidig ansah.
    »Moment«, hörte sie aus Jans Mund. Dann war er weg. Im Studio ging irgendetwas vor sich. Ira registrierte ein plötzlich anschwellendes Stimmengewirr. Sie war sich nicht sicher, aber es klang wie Timber, der aus einiger Entfernung etwas Unverständliches in das Mikrophon rief, begleitet von zustimmenden Rufen der anderen Geiseln.

Weitere Kostenlose Bücher