Amokspiel
Freie wummerten. Diesel drehte sich zur Seite und legte sein Ohr auf den Fußboden. Die Musik wurde lauter. Er kannte den Hit. Ein Stockwerk tiefer dröhnte sich gerade jemand mit Hip-Hop-Musik die Ohren zu. Und das beunruhigte ihn zutiefst. Der Brief, den er vorhin aufgehoben hatte, war auf Marta Domkowitz adressiert. Die Marta, die dem Türschild nach im ersten Stock wohnte. In der Wohnung, aus der gerade die Musik kam. Diesel raffte sich auf und verließ Leonis Appartement, ohne sich umzudrehen. Eins stand für ihn fest. Entweder er stand kurz davor, die erste Dreiundsiebzigjährige seines Lebens mit einer Vorliebe für Gangsta-Rap kennen zu lernen. Oder die Musik sollte etwas übertönen.
31.
Sie drückte die Klinke runter. Die schwere Feuerschutztür zum klimatisierten Schaltraum öffnete sich ohne Probleme. Kitty zog ihre Sneaker aus und legte sie so in den Rahmen, dass die Tür nicht hinter ihr ins Schloss fallen konnte.
Barfuß tapste sie mit ihren gestern erst pedikürten Füßen in den Raum und fühlte sich plötzlich noch viel verletzlicher.
»Warte auf mein Zeichen«, hörte sie ihre Mutter sagen. Sie klang leiser als noch in der Küche. Ihre Worte wurden von der Belüftungsanlage des Technikraums verschluckt, dank deren es im gesamten ZGR wie in einem Flugzeug summte.
»Ich bin schon drin«, antwortete Kitty. Tatsächlich stand sie sogar schon vor dem Leichensack. Er lag ganz in der Nähe des Eingangs direkt vor dem ersten Regal. »Nein! Wart. no... woll... ablenken.«
»Zu spät. Entweder jetzt oder nie. Das Funkgerät gibt gerade den Geist auf.«
Kitty beugte sich nach unten und war sich schon nicht mehr sicher, ob ihre Mutter die letzten Worte überhaupt noch verstehen konnte.
Sie öffnete den Reißverschluss, und das dabei entstehende Geräusch klang in ihren Ohren so laut wie ein Laubhäcks-ler im vollen Einsatz. Kitty kannte dieses akustische Phänomen noch aus ihrer Kindheit. Je mehr man sich bemühte, leise zu sein, desto lauter nahm man die Geräusche wahr, die einen umgaben. Als sie sich einmal mitten in der Nacht aus der Wohnung zu einer Party schleichen wollte, knarrten die Bodendielen bei jedem ihrer Schritte lauter, als sie es jemals zu einer normalen Uhrzeit getan hätten. Sie öffnete den Leichensack, bis sie den Kopf freigelegt hatte, und musterte das Gesicht.
Ist er tot? Oder schläft er nur? Unschlüssig, was sie als Nächstes tun sollte, ließ sie ihren Blick über den eingehüllten Körper gleiten. Der Leichensack kam ihr vor wie ein Sarg aus zerknittertem Kunststoff. Steif und unbeweglich. Sie verharrte kurz mit ihrem Blick in der Höhe des Brustkorbs. Da!
Sie stieß einen spitzen Schrei aus. Nur kurz. Nicht sehr laut. Trotzdem hallte es in ihren Ohren, als würde sie in einer Kirche stehen.
Verdammt. Hoffentlich hat Jan May das nicht gehört! »Was i......ei dir .. .os .. .ty?«
Sie ignorierte die Wortfetzen ihrer Mutter. Zuerst musste sie ihren Verdacht überprüfen. Kitty war sich nicht sicher.
Hatte sich der Körper im Sack gerade bewegt? Ihre Hand zitterte, während sie seine blassen Lippen berührte. Keine Reaktion. Wo misst man am besten den Puls? Sie versuchte es am Hals. Die Haut war ledrig. Schlecht rasiert. Fühlte sich unangenehm an. Wie ein ausgefranster Spüllappen. Kitty spürte nichts. Ihre eigenen Finger waren so unglaublich kalt und fast starr vor Aufregung. Als hätte sie gerade ohne Handschuhe eine Ladung Schnee von einer Windschutzscheibe kratzen müssen. Kommt die Kälte von mir, oder strahlt der tote Körper sie aus?
Plötzlich schrie Kitty wieder auf. Nicht sehr laut. Sogar etwas leiser als beim ersten Mal. Doch jetzt war ihre panische Reaktion eindeutig begründet. Das musste sie ihrer Mutter erzählen.
Sie aktivierte das Funkgerät. »Mama, ich glaube er ist .«
»Was?«
Kitty nahm den Daumen von der Sprechtaste und nahm alle Kraft zusammen. Erst nach zwei Sekunden schaffte sie es, sich langsam umzudrehen. Also doch. Sie hatte es geahnt.
Nicht nur sie hatte eine Entdeckung gemacht. Auch Jan May.
Er stand nicht mehr im Studio. Sondern direkt hinter ihr.
Mit jedem Klingeln wurde der Telefonhörer in ihrer Hand ein Kilo schwerer. Bitte nicht!
Ihr Kind hatte geschrien. Dann war die Verbindung abrupt abgerissen. Und jetzt ging auch Jan nicht mehr an die Studioleitung.
Was war los? Was hatte Kitty ihr sagen wollen? Und warum hatte sie geschrien?
Iras linkes Bein zitterte. Doch sie bemerkte es ebenso wenig wie den Schweiß, der ihr von den
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