Amokspiel
blieben ihnen nur noch acht Sekunden . »Onassis, nein!«, brüllte Götz und wandte damit das Todesurteil für alle Menschen ab, die sich in dieser Sekunde im achtzehnten und neunzehnten Stock aufhielten. Mit einer Ausnahme.
Jan May drehte sich um. Er hob seine Waffe. Zielte auf den Polizisten. Der Schuss löste sich nur einen Wimpernschlag später. Er traf die ungeschützte Schläfe des SEK-Mannes. Onassis' letzter Blick war erstaunt. Fassungslos.
Dann wurde sein erschlaffter Körper nach hinten in den Entlüftungsschacht gezogen.
Jan May blieb für eine Schrecksekunde mitten in der Küche stehen und glotzte ungläubig auf die Stelle in der Decke, aus der eben noch der SEK-Mann geschaut hatte. Dann sah er an sich herab und starrte die Waffe in seiner Hand an, als könne er selbst gar nicht glauben, was er angerichtet hatte.
Diese Sekunde nutzte Götz und rannte mit dem UPS-Fahrer auf seinen Schultern, so schnell es ging, zum Ausgang. Durch die aufgesprengte Tür, die Wendeltreppe herunter, jagte er zur Außenkante der begrünten Terrasse.
In der Erwartung einer Explosion im Studio setzte er alles auf eine Karte und sprang in die Tiefe.
38.
Der bekannte Radiosender 101Punkt5 dürfte heute die wohl größte Einschaltquote seines fünfzehnjährigen Bestehens erzielen. Und dennoch hat niemand hier einen Grund zu feiern. Seit heute Morgen kurz nach sieben hält ein offenbar geistesgestörter Mann sechs Menschen in seiner Gewalt, von denen er einen bereits bei laufendem Mikrophon hinrichtete. Jetzt erreichten uns weitere schockierende Nachrichten aus dem Studio. Der Stürmungs-versuch eines Sondereinsatzkommandos endete in einem Blutbad. Nach mittlerweile bestätigten Berichten kam es zum Schusswechsel in dem Sendestudio A, bei dem ein SEK-Beamter tödlich getroffen wurde. Ein anderer Polizist, der Leiter des Einsatzes, brachte sich durch einen todesmutigen Sprung von der Terrasse des neunzehnten Stockwerkes aus der Gefahrenzone. Wie durch ein Wunder wurde sein Sturz zwei Etagen tiefer durch einen Fensterputzwagen aufgehalten. Die Geisel, die er bei der Befreiungsaktion huckepack trug, hatte leider weniger Glück. Sie war bereits tot. Erschossen durch die Hand des Radiokillers, auf dessen Konto nunmehr zwei Menschenleben gehen. Und ganz Deutschland fragt sich, wie lange der Wahnsinn noch andauern wird ...
»Ja, sehen Sie sich das ruhig an!«, brüllte Steuer beim Näherkommen. Er fuchtelte wütend mit seiner dicken Hand in Richtung der Fernseher. Ira stand in der Lobby des MCB-Gebäudes und starrte auf die große Monitorwand direkt über dem Empfangscounter. Sonst liefen hier kurze Werbefilme der einzelnen Mieter in Endlosschleife. Aus aktuellem Anlass hatte der Pförtner einen Vierundzwan-zig-Stunden-Nachrichtensender eingeschaltet. Nun hallte die bedeutungsschwangere Stimme einer androgynen Nachrichtensprecherin durch das Erdgeschoss, und ihr strenger Reporterblick funkelte auf sechzehn Flachbildschirmen gleichzeitig.
»Das ist alles Ihre Schuld«, rief Steuer. Sein massiger Körper drängte sich vor Ira und nahm ihr die Sicht auf die Fernseher.
»Wissen Sie eigentlich, wie tief Sie jetzt in der Scheiße sitzen, Ira? Gegen das, was Sie heute ausgelöst haben, war Tschernobyl ein Schönheitsfehler!«
»Ich wollte nie stürmen lassen!« Ira sah an ihm vorbei, während sie mit ihm sprach.
Nicht weil sie Angst vor ihm hatte. Sie hatte Angst vor sich selbst. Die Sorge um Kitty betäubte all ihre Sinne. Womöglich auch ihre Selbstbeherrschung. Sie fürchtete, sie würde Steuer mit der Faust in sein feistes Gesicht dreschen, wenn sie ihm auch nur den Bruchteil einer Sekunde in die Augen sehen müsste. »Sie haben doch behauptet, alles wäre nur ein Bluff. Jan wäre ungefährlich.«
»Und Sie hatten eine Augenzeugin, die das Gegenteil bezeugen konnte«, schrie Steuer zurück. »Sie haben mir nichts gesagt und damit meine Männer bewusst in eine Katastrophe rennen lassen.«
Ich war mir doch auch nicht sicher, dachte Ira. Das zweitschlimmste Gefühl in diesem Moment war, dass er Recht hatte. Sie hatte ihn hinters Licht geführt und das Leben der anderen Geiseln vor das ihrer Tochter gestellt. Noch schlimmer war nur der Gedanke, dass alles umsonst gewesen war.
»Halt«, brüllte Steuer, diesmal gerichtet an eine Gruppe von Sanitätern, die gerade zwei Krankenliegen zum Ausgang rollen wollten. Mit zwei Schritten war er bei ihnen und riss das Laken zurück.
»Hier. Schauen Sie. Das ist besser als Fernsehen, Ira.
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