Amokspiel
die Qualmentwicklung am schnellsten voran. »Und wie lange dauert es, bis die Leitstelle auf den Alarm reagiert?«, hustete Ira und dachte sich, dass es vermutlich intelligenter gewesen wäre, wenigstens einen Stofffetzen als Atemmaske zurückzubehalten.
»Nun ja, das ist ein Knackpunkt«, keuchte Diesel. Der Rauch brachte Iras Augen zum Tränen, so dass sie ihn kaum noch sehen konnte. Außerdem wurde es im Zimmer von Sekunde zu Sekunde dunkler, da sich immer mehr Rußpartikel auf die Plastikabschirmung des Halogenstrahlers legten. »Wie meinst du das?«
»Wie ich schon sagte. Die Rauchmeldeanlage ist sehr empfindlich. Es gibt häufig Fehlalarm.« Und der wird genau so häufig ignoriert, dachte Ira. Eine Stichflamme schoss aus dem Wäschebündel nach oben, vermutlich hatte Diesel noch andere brennbare Materialien in seiner Jeans verwahrt. Die Hitze war nun fast genauso unerträglich wie der reizhustenauslösende Rauch, und Ira war sich nicht sicher, ob sie eher ersticken oder verbrennen wollte.
Zur gleichen Zeit, drei Autostunden von Berlin entfernt, hängte Theresa Schuhmann im Keller die frisch gewaschene Buntwäsche auf, so dass sie die Gefahr weder hören noch sehen konnte, auf die sich ihr kleiner Sohn gerade zubewegte.
Eigentlich wähnte sie ihn im Garten, hinten bei dem baufälligen Holzhäuschen, das ursprünglich einmal für die Gartengerätschaften reserviert gewesen war, in dem jetzt aber die Kaninchen hausten, bis die Temperaturen wieder unter null fielen und Theresa sie wohl oder übel wieder in ihrer Landhausküche dulden musste. Tatsächlich kniete der kleine Max gerade am Beckenrand des Swimmingpools und betrachtete die Plane, die diesen abdeckte, als hätte er eine neue Tierart entdeckt.
Max war im »Koffein-Alter«. So bezeichnete Theresa i hren Freundinnen gegenüber die derzeitige Phase ihres Fünfjährigen, wenn sie beschreiben wollte, dass er es keine drei Minuten ruhig an einem Platz aushielt, es sei denn, der Platz schoss mit atemberaubender Geschwindigkeit im Kreis herum und befand sich demnach auf einer Achterbahn. Ihr Mann Konstantin war ein übervorsichtiger Vater und hatte schon vor der Geburt seines einzigen Sohnes alle Gefahrenquellen des überschaubaren und gepflegten Familienanwesens beseitigt. Auch heute gab es keine ungesicherten Steckdosen mehr, keine scharfen Ecken und Kanten in Kopfhöhe, und mit dem Inhalt der Hausapotheke hätte ein Arzt im Kongo ein ganzes Dorf versorgen können. Dennoch konnte auch der Vater das allgemeine Lebensrisiko nicht auf null senken. Solange Max noch keinen Freischwimmer hatte, sollte er daher niemals alleine in die Nähe des Pools kommen. Das hatte Konstantin Theresa eingetrichtert. Allerdings vergaß er zu erwähnen, wie sie gleichzeitig die Wäsche machen und ihren aufgeputschten Sohn kontrollieren sollte, wenn sie ihn nicht anleinen durfte.
Theresa befestigte das letzte Kleidungsstück der Ladung mit einer Plastikwäscheklammer an der Leine, bückte sich noch einmal, um abschließend zu kontrollieren, dass sich nichts weiter in der Trommel der Maschine versteckt hielt, und wunderte sich. Warum war es auf einmal so ruhig? Nicht, dass es davor laut gewesen wäre. Doch irgendein Geräusch, das sie zuvor vermutlich nur mit dem Unterbewusstsein wahrgenommen hatte, schien jetzt zu fehlen. Sie sah zur grauen Kellerdecke, als könne sie durch sie hindurch nach oben ins Wohnzimmer sehen. Und tatsächlich schien es zu funktionieren. O mein Gott!
Obwohl sie weder etwas sah noch hörte oder roch, spürte sie die Gefahr.
Max!
Sie rannte die Steintreppe nach oben und stieß die angelehnte Kellertür zum Flur auf. Wo bist du?
Sie wollte nicht rufen, denn dann hätte sie sich selbst eingestanden, dass etwas anders war als noch vor wenigen Minuten. Sie warf einen hastigen Blick in die Küche. Nichts. Drehte sich um, sah durch die Fenster zur Veranda in den Garten. Keine Spur von Max. Alles, was sie erkennen konnte, war die eingedrückte Plane des Swimmingpools.
Und dann begriff sie es. Sie hörte die Alarmglocken schrillen und erkannte gleichzeitig ihren Irrtum. Denn die Glocke erklang nicht in ihrem Inneren. Und es war nicht Max, der in Gefahr war. Sondern irgendjemand, den sie nicht kannte.
Das Schrillen erstarb. Sie eilte ins Wohnzimmer. Und sah ihn. Max. Keine Ahnung, wie er es geschafft hatte. Wie er sich so weit hatte strecken können, um an ihn heranzukommen. An den Hörer.
Er hielt ihn mit beiden Patschehändchen, und Theresa kam es vor, als
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