Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Pflegefamilie, die mich im Alter von sieben Jahren adoptierte. Meine Haut ist schwarz, die meiner Adoptiveltern und meiner beiden Adoptivbrüder weiß. Jeder sah, dass ich nicht das leibliche Kind sein konnte. Aber meine Adoptiveltern beteuerten stets, sie würden mich genauso lieben wie ihre eigenen Kinder. Sie spielten, bastelten und turnten in Eltern-Kind-Gruppen mit mir und meinen Brüdern. Mit meiner leiblichen Mutter und meiner Großmutter hatte ich als Kind noch Kontakt, der dann später abriss. Das letzte Mal traf ich meine Mutter, da war ich einundzwanzig.
Jetzt, mit achtunddreißig Jahren, finde ich dieses Buch. Warum bloß habe ich es unter Hunderttausenden von Büchern herausgezogen? Gibt es so etwas wie Schicksal?
Der Tag hatte normal begonnen. Mein Mann war ins Büro gegangen, ich hatte meine Söhne in den Kindergarten gebracht und war weiter in die Stadt gefahren. Ich wollte noch kurz in die Bücherei. Ich bin oft hier. Ich mag die konzentrierte Stille, die leisen Schritte, das Rascheln der Buchseiten, die gebeugten Rücken der lesenden Besucher. In der Psychologieabteilung hatte ich nach Informationen über Depressionen gesucht. Auf Hüfthöhe, zwischen Erich Fromms «Die Kunst des Liebens» und einem Buch mit dem Allerweltstitel «In der Krise liegt die Kraft», stand das Buch mit dem roten Einband. Auf dem Buchrücken las ich: «Matthias Kessler: Ich muß doch meinen Vater lieben, oder?» Der Name des Autors sagte mir nichts, aber der Titel klang interessant. Also zog ich das Buch heraus.
Mein Mann Götz findet mich auf der Bank vor der Bibliothek liegend. Er setzt sich neben mich, betrachtet das Buch, blättert es kurz durch. Ich nehme es ihm schnell weg. Ich will nicht, dass er zuerst darin liest. Das Buch ist meins, der Schlüssel zu meiner Familiengeschichte. Der Schlüssel zu meinem Leben, nach dem ich all die Jahre gesucht hatte.
Mein ganzes Leben hatte ich das Gefühl, dass etwas mit mir nicht stimmt: Meine Traurigkeit, die Depressionen. Aber ich fand einfach nicht heraus, was so grundlegend falsch war.
Götz nimmt meine Hand, wir gehen zu seinem Wagen. Auf der Fahrt nach Hause spreche ich kaum. Mein Mann nimmt sich den Rest des Tages frei und kümmert sich um unsere beiden Söhne.
Ich lasse mich aufs Bett fallen, lese und lese, bis zur letzten Seite. Es ist schon dunkel, als ich den Band zuklappe. Ich setze mich an den Computer und recherchiere die ganze Nacht, lese alles über Amon Göth, was ich finden kann. Es ist, als würde ich in ein Gruselkabinett eintreten.
Ich lese über seine Ghettoräumungen in Polen, seine sadistischen Morde, seine auf Menschen abgerichteten Hunde. Erst jetzt wird mir das Ausmaß der Verbrechen bewusst, die Amon Göth begangen hat. Himmler, Goebbels, Göring – diese Figuren sind mir sofort präsent. Was Amon Göth genau getan hat, wusste ich nicht. Nach und nach wird mir klar, dass die Filmfigur in «Schindlers Liste» keine fiktive Figur war, sondern ein reales Vorbild aus Fleisch und Blut hatte. Meinen Großvater. Einen Mann, der reihenweise tötete und dem das auch noch Freude bereitete. Ich bin die Enkelin eines Massenmörders.
*
Jennifer Teege hat eine warme dunkle Stimme mit Münchner Einschlag, einem leicht rollenden «R». Ihr Gesicht ist klar und ungeschminkt, die eigentlich krausen Haare sind zu langen schwarzen Locken geglättet, die schmalen langen Beine stecken in engen Hosen. Wenn sie einen Raum betritt, drehen sich die Köpfe, die Männer schauen ihr nach. Sie geht sehr gerade, ihr Schritt ist fest und entschieden.
Ihre Freunde beschreiben Jennifer Teege als selbstbewusste Frau, voller Neugier und Abenteuerlust. Eine Studienfreundin sagt über sie: «Wenn sie von einem spannenden Land hörte, rief sie: Das kenne ich noch nicht, da fahr ich hin! Und sie zog los, nach Ägypten, Laos, Vietnam und Mosambik.»
Doch wenn sie über ihre Familiengeschichte spricht, zittern immer wieder ihre Hände, und sie weint.
Der Fund des Buches mit der Bibliothekssignatur Mcm O GOET # KESS ist der Moment, der Jennifer Teeges Leben zerschneidet, der es teilt in ein Davor und ein Danach: Davor, ohne das Wissen um ihre Herkunft. Danach, mit dem Wissen um die Geschichte ihrer Familie.
Die Geschichte ihres Großvaters kennt die ganze Welt: In Steven Spielbergs Film «Schindlers Liste» ist der grausame KZ -Kommandant Amon Göth Saufkumpan und Gegenspieler des gleichaltrigen Oskar Schindler: Judenmörder gegen Judenretter. Eine Filmszene hat sich ins
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