Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
laufe weiter über die Felder, vorbei an Pferdeweiden. Danach durch die Kleingartensiedlung, mit Gartenzwergen zwischen Blumenbeeten: Die demonstrativ heile Welt hat etwas Anrührendes. Hinterher ist mein Kopf frei.
Meine Adoptivfamilie weiß noch immer nichts. Zu Weihnachten will ich es ihnen endlich sagen. Wir treffen uns in München im Haus meiner Adoptiveltern.
Mein Weihnachtsgeschenk: Ich gebe jedem ein Exemplar des Buches über meine Mutter, dazu die einzige Biographie Amon Göths, einen dicken Band, verfasst von einem Wiener Historiker.
Meine Adoptiveltern Inge und Gerhard – Mama und Papa kann ich sie jetzt nicht mehr nennen – sind überrascht und geschockt. Zu Beginn, direkt nach dem Fund des Buches, hatte ich den Verdacht, dass sie alles über meine leibliche Familie wüssten und mich nur nicht beunruhigen wollten. Dass auch sie mich betrogen hätten. Doch schnell war mir klar: Sie hätten mir etwas so Fundamentales nicht verschwiegen. Ihre Reaktion jetzt zeigt mir, dass ich recht hatte: Auch sie wussten von nichts.
Meinen Adoptiveltern fiel es schon immer schwer, über Gefühle zu sprechen. Nun flüchten sie sich in akademische Details: In der Amon-Göth-Biographie fehlen die Fußnoten, moniert mein Adoptivvater. Er fragt: Stimmt die Zahl der Toten mit der in anderen Quellen überein? Mein Leben wurde aus den Angeln gehoben – und meine Adoptiveltern diskutieren über Fußnoten! Meine Adoptivbrüder Matthias und Manuel verstehen dagegen sofort, was das Buch für mich bedeutet.
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Jennifer Teeges Adoptivmutter Inge Sieber hat noch vor Augen, wie Jennifer an diesem Weihnachtsabend auf der Couch saß und nach Worten rang: «Jenny hatte angekündigt, dass es etwas Wichtiges zu bereden gebe. Doch dann blieb sie zuerst stumm, blickte uns nur an, und ihr kamen plötzlich die Tränen. Ich ahnte, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.» Als Inge Sieber die ganze Geschichte erfahren hatte, wusste sie zunächst nicht, wie sie damit umgehen sollte: «Meinem Mann und mir hat es den Boden unter den Füßen weggezogen.»
Jennifer Teeges Adoptivbruder Matthias kann in dieser Weihnachtsnacht nicht schlafen: «Jennys Schicksal trieb mich um. Für sie war durch dieses Buch eine andere Welt aufgegangen. Ihr anderer Teil. Sie sah, wo sie herkam. Sie hat sich viel mit ihrem Großvater beschäftigt, aber noch mehr mit den Frauen in ihrer Familie, ihrer Großmutter und ihrer Mutter.»
Jennifer habe sich plötzlich nicht mehr so sehr als Tochter ihrer Adoptiveltern gesehen, sondern als Teil ihrer leiblichen Familie. Das habe ihre Adoptiveltern sehr verletzt, glaubt Matthias.
Er selbst habe sich sehr um seine Schwester gesorgt: «Sie war so gedrückt, so niedergeschlagen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Dabei hatte ich sie meist als stark empfunden. Von uns drei Geschwistern war sie immer die Mutigste; die, die sich am meisten traute.»
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Mein Bruder Matthias wird in den nächsten Monaten neben meinem Mann mein wichtigster Gesprächspartner und recherchiert immer neue Details über die Göth-Familie.
Meine israelischen Freundinnen Noa und Anat schicken Mails: «Jenny, wo steckst Du, warum meldest Du dich nicht?» Ich antworte nicht. Mir fehlen die Kraft und die Worte. Ich möchte meine Freundinnen nicht verletzen. Ich weiß nicht mehr genau, wo sie Verwandte im Holocaust verloren haben. Ich muss sie fragen. Und was, wenn sie sagen: «Im KZ Płaszów»?
Die Opfer von Amon Göth – sie sind für mich eben nicht abstrakt, keine anonyme Menge. Wenn ich an sie denke, sehe ich die Gesichter der alten Menschen vor mir, die ich während meiner Studienzeit in Israel im Goethe-Institut getroffen habe: Holocaust-Überlebende, die wieder Deutsch sprechen und hören wollten, die Sprache ihrer alten Heimat. Einige hatten Probleme mit den Augen, ich las ihnen aus deutschen Zeitungen und Romanen vor. Auf ihren Unterarmen sah ich die eintätowierten Nummern aus den Lagern. Zum ersten Mal fühlte sich meine deutsche Nationalität falsch an, wie etwas, wofür man sich entschuldigen musste. Aber ich war gut getarnt durch meine dunkle Hautfarbe. Keiner hat mich als Deutsche wahrgenommen.
Wie wären diese alten Leute mir begegnet, wenn sie gewusst hätten, dass ich die Enkelin Amon Göths bin? Vielleicht hätten sie nichts mit mir zu tun haben wollen. Vielleicht hätten sie ihn in mir gesehen.
Mein Mann sagt zu mir: Finde die Adresse deiner Mutter heraus, konfrontiere sie mit deiner Wut, mit deinen Fragen. Und sag deinen
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