Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Płaszów lebte?
Ich habe auch noch einen Termin im Jugendamt vereinbart. Die Beamtin ist sehr nett und bemüht sich, mir zu helfen. Ich darf nur Teile der Akten selbst lesen. Ich frage sie, ob irgendwo vermerkt ist, dass ich als Kind psychische Störungen hatte.
Ich weiß ja nicht, was andere ganz selbstverständlich wissen: Wenn mich ein Arzt fragte, welche Krankheiten es in meiner Familie gebe, konnte ich darauf nie etwas antworten. Ich weiß auch nicht, ob ich als Baby einen Schnuller hatte, welche Lieder ich gern mitsummte oder welches Schmusetier mein erstes war. Ich hatte keine Mutter, bei der ich mich danach erkundigen konnte.
Nein, sagt die Frau vom Jugendamt zu mir, in den Akten stehe nichts über irgendein sonderbares Verhalten; ich sei ein normal entwickeltes, fröhliches Kind gewesen.
Ich schaffe es gerade noch pünktlich in die Praxis meiner ehemaligen Therapeutin. Von ihr möchte ich wissen: Was war damals ihre Diagnose – war ich wirklich nur depressiv oder schwerer gestört? Wirke ich jetzt klar auf sie? Sie beruhigt mich: Sie habe bei mir wirklich nur Depressionen festgestellt und niemals etwas anderes diagnostiziert. Sie gibt aber zu, dass sie mit meiner jetzigen Problematik überfordert ist, und schickt mich zu einem Münchner Kollegen, Peter Bründl.
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Der Psychoanalytiker Peter Bründl erinnert sich noch gut an Jennifer Teege: «Da kam eine selbstbewusste große schöne Frau, die ganz gezielt Fragen stellte: Wie gehe ich mit meiner Geschichte um?» Bründl, ein älterer Herr im schwarzen Anzug und mit grauem Vollbart, hat in seiner Praxis in einer Münchner Altbauwohnung schon einige Enkel von Nazi-Tätern therapiert. Er sagt: «Gewalt und Verrohung hinterlassen Tiefenwirkungen für die Generationen, die darauf folgen. Das, was krank macht, sind aber nicht die Taten selbst, sondern es ist das Schweigen darüber. Diese unselige Verschwörung des Schweigens in den Täterfamilien, oft über Generationen hinweg.»
Schuld ist nicht vererbbar, Schuldgefühle aber sehr wohl. Die Kinder der Täter geben Ängste, Scham- und Schuldgefühle unbewusst wieder an ihre Kinder weiter, so Bründl. Das betreffe mehr Familien in Deutschland, als man denke.
Jennifer Teeges Fall sei besonders, weil sie ein doppeltes Trauma durchlitten habe, so Bründl: «Die Adoption und später dann die Entdeckung der Familiengeschichte.»
Peter Bründl sagt: «Es ist elend, was Frau Teege erlebt hat. Schon ihre Zeugung war ja eine Provokation: Die Mutter Monika Göth hat mit einem Nigerianer ein Kind bekommen. Das war zu Beginn der siebziger Jahre in München alles andere als selbstverständlich. Und für die Tochter eines KZ -Kommandanten war es unerhört.»
Oft kämen Nazi-Enkel zunächst wegen ganz anderer Probleme zu ihm, so Peter Bründl: wegen Depressionen, ungewollter Kinderlosigkeit, Essstörungen oder Versagensängsten im Beruf. Peter Bründl ermutigt sie dann, gründlich in der Vergangenheit zu recherchieren und das familiäre Lügengebäude einzureißen: «Danach können sie ihr eigenes Leben leben, ihr eigenes authentisches Leben.»
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Herr Bründl verweist mich an das Institut für Psychiatrie am Universitätsklinikum in Hamburg. Doch der Experte, den er mir empfiehlt, ist nicht erreichbar. Mit jedem Tag, den ich warten muss, werde ich verzweifelter. Ich weiß, dass ich professionelle Hilfe brauche, und alle anderen mit mir überfordert sind. Von Zeit zu Zeit raste ich aus, schreie Götz oder die Kinder an. Ich kann mich nicht mehr zusammenreißen, mich nicht mehr zusammenhalten.
Als ich eines Morgens schon beim Aufstehen zu weinen anfange, fragen mich meine Söhne: «Mami, was ist los?» – «Nichts», schluchze ich und fahre zur psychiatrischen Notaufnahme des Hamburger Universitätskrankenhauses. Der diensthabende Arzt verschreibt mir Antidepressiva. Ich nehme sie noch am selben Tag.
Die nächsten Wochen bin ich oberflächlich wiederhergestellt. Dann habe ich endlich einen Termin bei dem empfohlenen Therapeuten. Er wartet in einem nüchternen Professoren-Zimmer auf mich. Aber er erkennt meine innere Not. Als ich ihm meine Geschichte erzähle, weint er mit mir. Ich fühle mich bei ihm aufgehoben. Mein Therapeut wird nie wieder weinen, aber er wird mich durch die nächsten Monate begleiten.
Ich fange wieder an zu joggen. Schon immer bin ich gerne alleine gewesen. Allein gereist, allein gelaufen. Es gibt eine Strecke in einem Waldstück in Hamburg, die ich sehr mag. Ich starte im schattigen Wald,
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