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Amputiert

Amputiert

Titel: Amputiert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gord Rollo
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hervorzupulen. Er zog eine verdammte Show ab und versuchte, mich damit einzuschüchtern, aber ich bemühte mich, ihn nicht merken zu lassen, dass es funktionierte.
    »Geh mir aus dem Weg, Arschloch, oder ich verpasse dir und deinem Rollstuhl einen Ritt, den du nie vergisst.«
    Halb meinte ich das ernst und spielte mit dem Gedanken, ihn anzugreifen und zu versuchen, ihn rückwärts vom ebenen Bereich des Treppenabsatzes zu stoßen. Ich konnte mir den befriedigenden Anblick vorstellen, wie er mit den Armen nach Gleichgewicht ruderte, wenn die Räder seines Stuhls über den Rand der ersten Stufe kippten, und wie der unerträglich selbstgefällige Ausdruck in seinem Gesicht von blankem Grauen ersetzt wurde, als die Erkenntnis einsetzte, dass ihm ein schmerzlicher, möglicherweise tödlicher Sturz bevorstand.
    Dr. Marshall lachte mich nur aus. Meine Drohung zeigte keinerlei Wirkung auf sein Selbstvertrauen. Da hätte ich losstürmen, ihn überrumpeln sollen, als er unvorbereitet war, aber ich tat es nicht. Vielleicht – wahrscheinlich – hätte ich es getan, aber er fragte mich etwas, das angesichts unserer Lage so seltsam und fehl am Platz zu sein schien, dass er mich damit völlig überraschte.
    »Sagen Sie, Mr. Fox«, begann er, ergriff das Messer, stach es in der Nähe seines linken Oberschenkels in den blauen Jeansstoff seiner Hose und begann, in Richtung seines Knies zu schneiden. »Haben Sie je über meine Beine nachgedacht?«
    »Ihre Beine?«, murmelte ich und versuchte, mir zusammenzureimen, weshalb Dr. Marshall vor mir sein Hosenbein abschnitt.
    »Das hätten Sie tun sollen«, meinte er lächelnd und begann seelenruhig, den Stoff seines rechten Hosenbeins zu bearbeiten. »Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, habe ich Ihnen erzählt, dass ich seit einem Unfall nicht mehr gehen kann. Erinnern Sie sich?«
    Das tat ich, aber ich ersparte mir eine Antwort. Mich verwirrte, warum wir dieses ruhige, freundliche Gespräch überhaupt führten. Es mutete zu surreal an, Dr. Marshalls dünnes Lächeln wirkte etwas gezwungen, und ich wollte nichts sagen, das unter Umständen seine mordlüsterne Wut auslösen würde.
    Wieso um alles in der Welt schneidet er seine Hosenbeine ab?
    »Ich war erst fünfundvierzig, als es geschah. Das ist eine lange Zeit ohne Beine, Mr. Fox. Eine zu lange, finden Sie nicht auch? Besonders, wenn man zufällig die Fähigkeiten, den Mut und die Mittel besitzt, etwas dagegen zu unternehmen. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?«
    Dr. Marshall begann, sich aus dem Rollstuhl zu erheben. Der zerfetzte Stoff seiner Jeans rutschte zu Boden, als er aufstand. Gezackte, rosafarbene Narben, die um seine Oberschenkel verliefen, zeigten mir deutlich, wo er die neuen Beine an seinen noch verheilenden Körper transplantiert hatte.
    Gütige Mutter Gottes! Er hat mit sich selbst experimentiert!
    »Ich brauchte drei Versuche, drei qualvolle Fehlschläge, bevor ich es herausbekam. Wissen Sie, ich hatte überstürzt gehandelt, war zu unbesonnen und nicht annähernd bereit gewesen. Aber ich habe aus meinen Fehlern gelernt und diesmal geduldig gewartet, bis ich alle Unklarheiten beseitigt hatte und sicher war, dass es klappen würde. Mein zuverlässigster Chirurg hat die Operation für mich durchgeführt. Seit rund fünf Monaten läuft der Heilungsprozess, und schon bevor Sie hier eingetroffen sind, habe ich mit einer harten Physiotherapie begonnen. Es funktioniert, Mr. Fox. Diesmal funktioniert es. Diesmal kann ich aufstehen. Ich kann gehen.« Er richtete das lange Messer auf mich. »Und ich kann sogar Treppen steigen.«

Kapitel 18
    Erst, als Dr. Marshall einen ersten, vorsichtigen Schritt auf mich zukam, traf mich mit voller Wucht, was er gerade gesagt hatte.
    Er kann Treppen steigen.
    Hätte ich klar gedacht, hätte ich vielleicht immer noch beschlossen, den Doktor anzugreifen und umzustoßen, solange er noch das Gleichgewicht suchte, aber ich war verängstigt und mehr als ein bisschen verwirrt, und so flüchtete ich, statt vorzupreschen, die Treppe hinauf vom Doktor weg. Schwerer Fehler. Wegzurennen, würde mir nicht helfen. Wohin wollte ich schon? Ich war im Treppenhaus gefangen, konnte nirgendwohin, während sich Dr. Marshall mir von hinten näherte. Irgendwann würden wir beide am oberen Ende der Treppe landen, und ich würde mich nur mit den Beinen eines messerschwingenden Irren erwehren müssen.
    Ich rannte die Stufen hinauf und versuchte verzweifelt, mir einen Weg aus dieser Todesfalle zu überlegen, in

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