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Amputiert

Amputiert

Titel: Amputiert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gord Rollo
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die ich mich selbst gebracht hatte. Zum Glück hatte Dr. Marshall Schwierigkeiten mit der Treppe, da seine Beine nicht ausreichend verheilt waren, um sie so schnell zu bewegen, wie er wollte. Ich konnte ihn unten fluchen hören, als er sich im Schneckentempo die Stufen hinaufquälte, ein entschlossener Mörder auf schwachen, frischgebackenen Beinen. Das würde mir Zeit verschaffen, allerdings bestenfalls einen Aufschub, nicht die vollwertige Begnadigung, die ich anstrebte.
    Denk nach, Mann! Denk nach!
    Und das tat ich, aber über verschieden hässliche Szenarien nachzudenken, die alle damit endeten, dass ich erstochen wurde, half nicht viel. Daher konzentrierte ich mich auf das Treppensteigen und beschloss, den größtmöglichen Abstand zwischen mich, meinen Verfolger und meine morbiden Gedanken zu bringen.
    Ich kurvte um den Treppenabsatz im zweiten Stock und spähte wehmütig zur Tür hinaus auf den Gang, doch für mich hätte sie ebenso gut eine solide Ziegelsteinmauer sein können. Ich biss vor Panik und Frustration die Zähne zusammen und lief weiter die Treppe hinauf. Als der Absatz des dritten Stocks in Sicht geriet, rechnete ich fest damit, die unweigerliche Sackgasse zu erblicken, die mein Schicksal besiegelte. Ich würde auf die letzte Stufe stoßen, auf die geschlossene Stahltür und auf die Betonwand, wo ich mich zur Wehr setzen müssen würde.
    Was um alles in der Welt ...?
    Irgendetwas stimmte nicht.
    Die Treppe war da, auch die Stahltür, genau, wie ich vermutet hatte, aber es gab keine Wand, keine Sackgasse. Stattdessen verschwand eine weitere gewundene Treppe um eine weitere Ecke. Hatte ich falsch eingeschätzt, in welchem Stockwerk ich mich befand? Nein, ich war sicher. Dies war die dritte – und letzte – Etage, ohne Zweifel.
    Wohin führen diese Stufen dann? Aufs Dach? In den Himmel?
    Spielte es eine Rolle? Ich stieg hinauf, nun jedoch langsamer, zumal mir nicht klar war, wie es in einem viergeschossigen Gebäude ein fünfgeschossiges Treppenhaus geben konnte. Auf halbem Weg um die Ecke dämmerte mir die Antwort.
    Das Turmzimmer.
    Das Zimmer an der vorderen Ecke des Gebäudes mit der zerlumpten Fahne auf dem Dach, das ich am Tag meiner Ankunft gesehen hatte. Das musste es sein. Mein Verstand begann zu rotieren und sich zu fragen, ob mir das womöglich neue Überlebenschancen bot oder das Unausweichliche nur hinauszögerte. Ich ging weiter hinauf.
    Als ich um die Ecke bog, hinter der sich normalerweise der nächste Absatz befinden sollte, ging das Treppenhaus in einen großen Raum über. Von irgendwo ertönte leise ein summendes Geräusch, kaum hörbar, aber doch laut genug, um mich geräuschlos die letzten Stufen hinaufschleichen zu lassen, wo ich innehielt, um über die oberste Stufe hinwegzuspähen und meine Umgebung auszukundschaften, bevor ich weiterging. Das Turmzimmer war nicht so groß, wie ich es mir von unten aus vorgestellt hatte, vielleicht sechs mal sechs Meter mit einer dreieinhalb Meter hohen Decke. Die Form war oval, und in der von der Treppe am weitesten entfernten Wand waren zwei große Buntglasfenster. Das Zimmer präsentierte sich makellos sauber, aber gerammelt voll mit Möbeln, Kleidern, einer teuer aussehenden Stereoanlage, einem Computer, jeder Menge medizinischem Kram, frei stehenden Sauerstoffflaschen und einem Bett mit Messingrahmen. In dem Zimmer gab es auch noch anderes Zeug, aber sobald ich das Bett sah – oder vielmehr, wer darin lag –, war alles andere egal.
    Unmöglich. So viel Pech kann ich nicht haben.
    Und ob ich konnte. Vier Meter von mir entfernt lag Drake nackt ausgestreckt auf den Laken und bereitete sich auf ein Nickerchen vor. Typisch für mich – das mit Gerümpel vollgestopfte Turmzimmer war anscheinend seine Privatwohnung.
    Was sollte ich jetzt tun? Da sich mir Dr. Marshall langsam von unten näherte und vor mir Drake, der Neandertaler, wartete, gingen meine Chancen, heil aus diesem Schlamassel herauszukommen, gegen null.
    Scheiße!
    Ich schaute über die Schulter zurück. Dr. Marshall war noch nicht zu sehen, aber ich wusste, dass er kommen würde – ich konnte durch das Treppenhaus hören, wie er sich langsam den Weg heraufbahnte. Ich rechnete jede Sekunde damit, ihn mit einem garstigen Grinsen in der Fresse um die Ecke biegen zu sehen.
    Ein Geräusch über mir lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf Drake. Der Sicherheitschef setzte sich mit dem Rücken zu mir und dem Gesicht zu den Fenstern auf. Dann stand er auf und gähnte laut, als er sich

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