Amputiert
herausgebracht hätte, selbst wenn ich gewusst hätte, was ich sagen sollte. Wir starrten einander eine Weile schweigend an, dann fuhr Dr. Marshall fort.
»Ich bin nicht das Monster, für das Sie mich halten, Mr. Fox. Ich habe nicht so sehr gelogen, wie Sie glauben. Was das Geld angeht schon, aber nicht in jeder Hinsicht. Ich habe Ihnen gesagt, dass ich immer nur meinem armen, unglücklichen Sohn helfen wollte. Erinnern Sie sich?«
Natürlich erinnerte ich mich. Verlogener Dreckskerl. »Du vergisst da etwas, Marshall. Ich war im Zimmer deines angeblichen Sohnes. Ich habe den Plastikkörper und die falschen Drähte gesehen. Das war bloß eine rührselige Geschichte, um uns auf deine Seite zu ziehen. Alles Blödsinn, also spar dir den Atem.«
»Blödsinn? Sind Sie da sicher?«, fragte er.
Dr. Marshall humpelte zu dem Tisch mit dem abgetrennten Kopf und der Wirbelsäule. Zuerst strich er liebevoll über das verfilzte Haar des Mannes, dann rückte er den Glastank behutsam zurecht, sodass er genau in der Mitte des Tischs stand. Von dort, wo ich stand, konnte ich die Augen des Mannes nicht sehen, aber danach zu urteilen, wie der Kopf und die Wirbelsäule hin und her zuckten, wirkte er nun noch verängstigter als während der Belästigung durch Drake.
»Ganz ruhig«, sagte der Arzt mit sanfter, beschwichtigender Stimme. »Alles wird gut.«
Das Zittern des Kopfes legte sich allmählich, und Dr. Marshall richtete die Aufmerksamkeit wieder auf mich. Er drehte den Glastank um 180 Grad, sodass ich direkt in die gequälten Augen des körperlosen Mannes blickte.
»Mr. Fox, ich möchte Ihnen Andrew Nathan Marshall vorstellen. Meinen Sohn. Andrew, dieser dumme Mann ist Michael Fox.«
Kapitel 19
Die Stille im Raum war ohrenbetäubend. Bis zu diesem Moment hatte ich diese Phrase immer für klischeehaft und lächerlich gehalten. Aber die Stille im Turmzimmer wirkte tatsächlich fast greifbar, und in der Luft lag so dichte Anspannung, dass ich beinah daran erstickte, während mein Verstand raste und zu begreifen versuchte, was ich soeben gehört hatte.
Sein Sohn?
Es gibt ihn wirklich?
Wie konnte Dr. Marshall seinem Sohn so etwas antun?
Warum?
So viele Fragen, die ich stellen wollte, doch ich tat es nicht. Ich stand nur da, vergaß vorübergehend mein eigenes Dilemma, vergaß eigentlich alles, während ich in die vorquellenden, verängstigten Augen des bemitleidenswerten Mannes starrte, dem zu helfen ich dummerweise einen Vertrag unterschrieben hatte.
Wie erträgt er es nur, auf diese Weise zu leben?
Was muss Andrew von all dem halten?
Was denkt er wohl gerade?
»Soll ich ihn ausschalten?«, fragte Drake seinen Boss, brach damit schließlich die Totenstille und riss mich aus meiner Benommenheit. »Er macht mehr Ärger, als er wert ist.«
»Das beurteile ich«, gab Dr. Marshall zurück. »Er ist immer noch voller guter Ersatzteile. Es gibt keinen Grund, sie zu vergeuden.«
»Wie Sie meinen.«
Sie redeten über mich, als wäre ich gar nicht anwesend – als wäre meine Meinung über den Fortbestand meines Lebens völlig bedeutungslos. Und ich vermute, so war es wohl auch – zumindest für sie. Definitiv aber nicht für mich. Es musste einen Ausweg geben. Ich konnte nicht einfach herumstehen und darauf warten, dass Drake ...
Drake!
Eine Idee schoss mir durch den Kopf. Vielleicht würde sie nicht funktionieren, aber sie schien mir einen Versuch wert zu sein. Was hatte ich schon zu verlieren?
»He, Doc«, brüllte ich und unterbrach ihre zwanglose Unterhaltung darüber, ob ich auf der Stelle umgebracht oder langsam zerstückelt werden sollte, um an Ersatzteile zu gelangen. »Hast du eine Ahnung, was Drake gern mit deinem geliebten Sohn tut, wenn er mit ihm allein ist? Er zwingt Andrew mit vorgehaltenem Messer, seinen Schwanz zu lutschen. Ich habe es vor wenigen Minuten selbst gesehen. Sieh dir den großen, beschissenen Perversen nur an. Was denkst du wohl, warum er nackt ist?«
Es war kein großartiger Plan, aber ich hoffte, durch die Enthüllung, dass Drake seinen Sohn belästigte, die Wut des wahnsinnigen Chirurgen auf Drake und weg von mir zu lenken. Und wenn ich sie nur zum Streiten brächte, damit ich eine Chance hätte, zur Treppe zu preschen. Ich brauchte bloß eine Gelegenheit von drei Sekunden, schon würde ich abheben wie eine Rakete und zum Vordereingang rasen.
Statt wütend zu werden, wie ich gehofft hatte, begann Dr. Marshall zu lachen. Anscheinend fand auch Drake meine Äußerungen unterhaltsam und
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