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Amputiert

Amputiert

Titel: Amputiert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gord Rollo
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sie inne, und ich dachte, sie würde es mir sagen. Doch stattdessen begann sie wieder zu weinen und flüchtete zur Tür hinaus. Ich hörte, wie der Schlüssel klapperte und das Schloss einrastete, dann lauschte ich, wie sich Junie schluchzend den mit Teppichboden ausgelegten Flur entlang entfernte. Bald wurde es still. Zu still. Es war, als hielte die gesamte Einrichtung den Atem an, entweder aus Trauer darüber, was Andrew widerfahren war, oder aus stummer Angst vor dem Zorn des Vaters. Ich konnte nicht für alle sprechen, aber es stand außer Zweifel, was von beidem mich schweigen ließ.

Kapitel 30
    Ununterbrochen eine verriegelte Tür anzustarren, ist nicht besonders unterhaltsam. Allerdings konnte ich nicht anders, da ich überzeugt davon war, Drake oder Dr. Marshall würden plötzlich wieder auftauchen und durch die Tür stürmen, um mich zu schnappen, wenn ich einen Moment lang nicht aufpasste. Das war nicht nur nervenaufreibend, es ließ den Tag auch verflucht lang und die Nacht noch länger werden.
    Natürlich kreuzte niemand auf. Weder Drake noch Marshall, nicht einmal Junie. Da waren nur ich und meine hyperaktive Fantasie, die Paranoia zu einer regelrechten Kunstform erhob. Bei Tagesanbruch war ich geistig und körperlich erschöpft. Vier oder fünf Stunden lang war ich eingenickt und dazwischen immer wieder ruckartig erwacht, weil ich dachte, ich hätte gehört, wie sich die Tür öffnete.
    Um mich abzulenken – sonst hätte ich wohl durchgedreht und angefangen, meinen Kopf gegen die Tür zu rammen –, beschloss ich, die Zeit mit etwas Training totzuschlagen. Müde hin, müde her, alles erschien mir besser, als nur herumzusitzen und darauf zu warten, dass etwas Schlimmes passieren würde. Die meisten der Übungen, die Junie mich in der Reha machen ließ, konnte ich hier in meinem Zimmer genauso einfach wie im Fitnessraum ausführen. Ich schob das Bett ein Stück beiseite, um mir Ellbogenfreiheit zu verschaffen, und legte los. Nichts Großartiges, bloß die Gliedmaßen beugen und strecken, einige Liegestütze und Hampelmänner, aber doppelt so viele wie bei meiner üblichen Routine. Bald schnaufte und keuchte ich wie ein alter, überlasteter Farmesel. Ich schwitzte und roch entschieden übel, deshalb schälte ich mich aus meinem dreckigen T-Shirt und durchquerte das Zimmer, um mir ein neues zu holen. Dabei bemerkte ich meinen Körper im großen Ankleidespiegel an der Wand. Ich meine, ich bemerkte ihn richtig , und zwar zum ersten Mal seit meiner Verpflanzung in den Fleischanzug.
    Der Anblick ließ mich jäh erstarren.
    Bisher hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, nicht darauf zu achten – abgesehen von einigen unvermeidlichen flüchtigen Blicken beim Baden und Anziehen. Das ganze Bild hatte ich mir nie angesehen; ich war rundum zufrieden damit gewesen, die grausige Realität zu ignorieren, die das Spiegelglas zu mir zurückwarf. Um meine geistige Gesundheit zu bewahren, war das alte Sprichwort ›Aus den Augen, aus dem Sinn‹ zu meinem neuen Motto geworden. Worte wie ein Gebot, doch durch meine Angst, dass ich neuerlich in den Operationssaal geschafft werden könnte, wurde ich plötzlich neugierig und wollte mich näher betrachten, um festzustellen, wie schlimm ich wirklich aussah. Ich zog mich aus, warf Hose, Socken und Unterwäsche neben das verschwitzte T-Shirt auf den Boden, drehte mich langsam um ... und hatte Mühe, den Schrei zu unterdrücken, der sich in meinem Hals anbahnte.
    Es war schlimmer, als ich gedacht hatte. Viel schlimmer.
    O mein Gott! Was ist aus mir geworden?
    Ein einziges, kaltes Wort kroch mir durch den Kopf; es beschrieb meinen neuen Körper perfekt.
    Abscheulichkeit.
    Mir war von Anfang an klar gewesen, dass ich nackt ein hässlicher, grässlicher Anblick sein würde, doch was mich überraschte – nein, schockierte –, war, wie unmenschlich ich aussah. Mit hässlich hätte ich leben können, aber die zusammengestückelte, erbärmliche Kreatur mit dieser teigigen Haut, die sich mir im Spiegel offenbarte, war schlimmer als alles, was ich mir ausgemalt hatte.
    Was stimmte bloß nicht mit meiner Haut? Sie sah einfach nicht richtig aus. Man hatte Spenderteile verschiedener Typen von Menschen verwendet, deshalb wirkten manche Bereiche meines Körpers glatt und jugendlich, während andere – besonders meine Beine – alt, runzlig und mit dichtem, verfilztem Haar überwuchert waren. Meinen linken Arm bedeckten knallige Tätowierungen, die jedoch an der Schulter endeten, mitten im

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