Amputiert
Absolut niemand. Ich küsste sie auf die kalte, runzlige Wange, und ohne Drake eines Blickes zu würdigen, ging ich an ihm vorbei zur Tür hinaus.
Er lachte über meine jämmerliche Demonstration von Trotz, sagte jedoch kein Wort. Ich wertete das als kleinen Sieg und steuerte mit hoch erhobenem Haupt auf den Videokonferenzraum zu.
Kapitel 31
Ich fühlte mich ein wenig wie ein Filmstar. Da waren so viele Videokameras, die drehten, Halogenleuchten, die mich in grelles Licht tauchten, Digitalmikrofone, die jedes Geräusch aufzeichneten, und Sicherheitsleute als Möchtegernfotografen und -videofilmer, die herumwuselten und jede meiner Bewegungen verfolgten, dass ich mir unwillkürlich wie etwas Besonderes vorkam. Albern, ich weiß. Mir war durchaus bewusst, dass ich lediglich einem dressierten Seehund glich, der kläffte und einen Gummiball auf der Nase balancierte, wenn Dr. Marshall einen saftigen Fisch davor baumeln ließ. Nicht, dass ich eine Wahl gehabt hätte. Jedes Mal, wenn ich mich beschwerte oder nicht sofort den Anweisungen gehorchte, lächelte Drake und zog seine Jacke auf, um mir den Pistolengriff zu zeigen, der aus seinem Hosenbund ragte. Das war ein Fisch, den ich nicht unbedingt kosten musste, also hielt ich die Klappe und tat, was von mir verlangt wurde.
Es war keine große Sache. Wie Junie gesagt hatte, wollte Dr. Marshall lediglich den Video- und Fotobeweis, dass meine Transplantation erfolgreich gewesen war. Ich verbrachte zwei Stunden damit, zu gehen, zu sitzen, zu springen, hinzuknien, im Stand zu laufen und einige derselben Übungen auszuführen, an denen ich mit Junie seit Wochen arbeitete. Außerdem ließen sie mich Bälle verschiedener Größen fangen und treten und Dinge tun wie meinen Namen schreiben oder meine Schnürsenkel zubinden, um zu zeigen, dass ich ausreichend Gefühl in den Händen und Füßen hatte.
Es war ermüdend und mühsam, aber keine große Anstrengung. Nach einer Pause zum Mittagessen wurde ich etwas aufgebracht – na ja, eigentlich sehr aufgebracht –, da Dr. Marshall vorschlug, ich solle meine Kleider ausziehen und dieselben Bewegungsabläufe noch einmal vorzeigen. Er wollte, dass auf den Videos deutlich zu sehen sei, wo er meine verschiedenen Körperteile zusammengefügt hatte. Ich sagte ihm, er könne mich kreuzweise und sich die Idee, mich nackt zu filmen, in den Arsch stecken. Fünf Minuten, eine hässliche Beule am Kopf und einen kurzen Zuspruch von Drake später, der mir erklärte, dass niemanden interessiere, was ich wolle, war ich splitterfasernackt und dackelte wieder wie ein braver Seehund durch den Raum. Es war demütigend, und ich hatte mich noch nie in meinem Leben so befangen gefühlt. Ich war offiziell der Freak, als den ich mich gesehen hatte – der hässliche Puzzlemann, der für alle zur Schau gestellt wurde, auf dass sie lachen und mit dem Finger auf ihn zeigen konnten. Es war schrecklich.
Schließlich gaben sie mir kurz vor drei Uhr nachmittags meine Kleidung und ließen mich in mein Zimmer zurückkehren. Junie brachte mir ein frühes Abendessen, aber ich hatte keinen Appetit. Sie versuchte, sich mit mir zu unterhalten, wollte mich aufmuntern und mich aus meiner Niedergeschlagenheit holen, aber ich war in mieser Stimmung und forderte sie auf, zu gehen und mich in Ruhe zu lassen. Ich wollte nur noch ins Bett und vergessen, dass sich dieser Tag je ereignet hatte. Innerhalb von Minuten schlief ich ein.
Kapitel 32
»Reden Sie heute mit mir?«, flüsterte eine Stimme.
Ich setzte mich ruckartig auf und erblickte überrascht Junie, die am Fußende meines Bettes stand und Kleidung in den Armen hielt. Mein Herz hämmerte wild in der Brust. Ich hatte nicht gehört, wie sie die Tür aufgesperrt hatte und hereingekommen war, was ich als ungewöhnlich empfand, zumal ich ständig in höchster Alarmbereitschaft war. Ich musste müder gewesen sein, als ich gedacht hatte, komplett weggetreten. Offenbar hatten mir die Videoaufnahmen doch mehr abverlangt als mein übliches Training im Fitnessraum.
»Herrgott, Junie. Ich hätte um ein Haar einen Herzinfarkt bekommen.«
»So viel Glück haben Sie nicht«, erwiderte sie. Auf ihrem Gesicht bildete sich ein halbherziges Lächeln, doch sie vermochte nicht, es aufrechtzuerhalten, und ich wusste sofort, dass ihr etwas auf dem Herzen lag.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Nichts. Na ja, ich weiß es nicht. Irgendetwas stimmt nicht. Drake hat mir gesagt, ich soll Sie wecken und anziehen. Die wollen heute draußen
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