Amputiert
führen und sich von der Welt dafür auf den Rücken klopfen lassen, dass er so brillant ist. Ich kann es schon regelrecht hören. Kommt und seht euch den erbärmlichen kleinen Puzzlemann an. Scheiße! Dieser Irre gehört eingesperrt, nicht bewundert. Er ermordet und verstümmelt Menschen, Junie. Er zerstört sie, geistig und körperlich, nur um sich einen akademischen Orgasmus zu verschaffen. Und dafür will man ihm vielleicht noch einen verdammten Preis verleihen?«
»Natürlich nicht. Die Videos sind für seine persönlichen Aufzeichnungen. Nichts, was er hier tut, würde von der Ärztekammer je gutgeheißen oder genehmigt. Was Ethik angeht, hat er alle Grenzen gesprengt, aber seine Ergebnisse sind unübertroffen. Das ist alles, was ihn interessiert.«
»Aber was ist mit Ihnen? Er ist ein Wahnsinniger, Junie. Das wissen Sie. Wie können Sie für ihn arbeiten?«
»Ich habe keine andere Wahl, Mike.«
»Blödsinn! Jeder hat eine Wahl. Sie sind wegen des Geldes hier. Ich wette, er zahlt Ihnen eine gewaltige Stange ...«
»Er bezahlt mir kaum etwas«, fiel mir Junie ins Wort.
Das ließ mich jäh verstummen.
»Er lässt mich kostenlos hier wohnen und essen, aber mein Lohnscheck beträgt nur achthundert Dollar im Monat.«
»Warum sind Sie dann hier?«, fragte ich, aufrichtig verwirrt. »Eine gute Krankenschwester wie Sie kann in einem richtigen Krankenhaus doch sicher das Dreifache verdienen.«
Junie schloss die Augen und holte mehrmals tief Luft, bevor sie antwortete. »Ich habe einen Sohn, der in Jamestown bei meinem Exmann lebt. Er ... er sitzt im Rollstuhl, und Dr. Marshall hat versprochen ...«
»Sie müssen es nicht aussprechen, Junie. Tut mir leid, dass ich gefragt habe. Nach allem, was Sie gesehen haben .. glauben Sie ihm?«
Junie begann zu weinen. »Nein, eigentlich nicht, aber ich hoffe einfach weiter, dass er mir hilft, wenn ich tue, was er verlangt. Ein Teil von mir weiß, dass er wahnsinnig ist, ein anderer jedoch weiß, dass er in der Lage ist zu tun, was er sagt. Er könnte meinem Sohn helfen, wenn er wollte. Seinetwegen fällt es mir so schwer wegzugehen.«
»Das kann ich verstehen. Ehrlich. Bevor ich hierher kam, war ich bereit, mich umzubringen, um meiner Tochter zu helfen. Verzweiflung ist etwas Mächtiges, aber sie kann auch ein Werkzeug sein, das Psychos wie Dr. Marshall gegen anständige Menschen einsetzen. Er hat vor langer Zeit den Verstand verloren, Junie. Irgendjemand muss ihn aufhalten, sonst foltert und tötet er weiter unschuldige Menschen. Wir müssen etwas unternehmen. Helfen Sie mir.«
»Ich weiß nicht recht, Mike. Ich ... ich will nicht mehr darüber reden. Machen Sie sich einfach fertig, in Ordnung?«
So einfach wollte ich sie nicht vom Haken lassen. Niemals! »Sie wollen nicht darüber reden? Soll das ein Scherz sein? Sie arbeiten für einen gottverdammten Mörder, und nur, weil er reich und klug ist und Ihnen das sagt, was Sie hören wollen, ist das in Ordnung? Sehen Sie sich um, Junie. Sie können nicht ewig wegschauen. Um Himmels willen, haben Sie die armen Teufel oben im dritten Stock in der Blutbank gesehen? Möchten Sie Ihren Sohn dort oben haben? Da geht es ihm in seinem Rollstuhl um einiges besser!«
Junie erwiderte nichts. Ich glaube, das konnte sie nicht, ohne in Hysterie auszubrechen, und bei einer zähen alten Krähe wie ihr hatte das wirklich etwas zu heißen. Es verriet mir, dass ich zu ihr durchdrang und vielleicht endlich im Begriff war, die Verbündete zu finden, die ich brauchte, um etwas zu tun. Ich hatte keine Ahnung, was genau, aber irgendetwas .
Dann steckte Drake den glänzenden Schädel zur Tür herein und begann, uns Befehle zu erteilen. Ich sah ihn nicht einmal an, sondern konzentrierte mich weiter auf Junie und beobachtete, wie das Licht in ihren Augen erlosch, als sie Drakes grausame Stimme hörte. Die Hoffnung und der Mut in ihr verwelkten, erstarben vor meinen Augen. Und ohne, dass sie es mir zu sagen brauchte, wusste ich, dass ich auf mich allein gestellt war. Sie fühlte mit mir, davon war ich überzeugt, aber in vielerlei Hinsicht war sie hier genauso sehr ein Opfer wie ich. Ihre Liebe und Hoffnung für ihren Sohn sowie ihre Angst vor Dr. Marshall und dessen wandelndem Muskelberg Drake waren zu groß, als dass sie das Risiko eingegangen wäre, etwas Dummes zu versuchen. Ich konnte ihr daraus keinen Vorwurf machen. Wer war ich schon, dass ich von ihr verlangen konnte, ihr Leben und ihre Familie für mich aufs Spiel zu setzen? Niemand.
Weitere Kostenlose Bücher