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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Taschenlampe finden würde, vorausgesetzt, daß er das Moor bis zum Einbruch der Dunkelheit hinter sich gelassen hätte und wieder im Tal wäre. Folglich blieb ihm genügend Zeit, um Scafell Pike zu besteigen; die Entscheidung konnte er aber auch noch hinauszögern, bis er auf Esk Hause stand.
    Während der ersten Stunde, nachdem er den Weg Richtung Süden ins Langstrath Valley eingeschlagen hatte, verspürte er trotz seiner Zuversicht mit Unbehagen, wie ihn die Einsamkeit der freien Natur umfing. Hilflos verlor er sich in einem Tagtraum, eine ausgefeilte Geschichte über jemanden, der hinter einem Felsen lauerte, um ihn umzubringen. Hin und wieder blickte er über die Schulter [96]  zurück. Da er oft allein wanderte, war ihm dieses Gefühl nicht unvertraut. Stets mußte er ein gewisses Widerstreben überwinden. Es bedeutete eine Willensanspannung, ein Ringen mit dem Instinkt, sich von den nächsten Menschen zu entfernen, von Obdach, Wärme, Hilfsbereitschaft. Dem Sinn für Größenverhältnisse, der an die täglichen Perspektiven von Räumen und Straßen gewöhnt war, trotzte plötzlich eine ungeheure Leere. Die Felsenformation, die sich über dem Tal erhob – ein einziges zu Stein verfestigtes Stirnrunzeln. Das Tosen und Toben des Wildbachs sprach von Bedrohung. Sein sinkender Mut und alle seine instinktiven Regungen gaben ihm ein, daß es töricht und unnötig war weiterzugehen, daß er einen Fehler beging.
    Clive ging weiter, weil seine Mutlosigkeit, seine Ängstlichkeit genau die Verfassung – die Krankheit – war, von der er sich zu befreien hoffte, sie war der Beweis, daß ihn seine tägliche Schinderei – stundenlang übers Klavier gekauert – zu kriecherischem Verhalten genötigt hatte. Er würde wieder stark sein und frei von Angst. Hier herrschte keine Bedrohung, einzig die Gleichgültigkeit der Elemente. Natürlich gab es Gefahren, aber doch nur die üblichen, und die waren gering: Er mochte sich bei einem Sturz verletzen oder sich verlaufen; ein heftiger Wetterumschwung, der Einbruch der Nacht. Wenn er damit fertig würde, wäre das Gefühl, Herr der Lage zu sein, wiederhergestellt. Bald würde jeder Hinweis auf Menschen von den Felsen wie weggewaschen sein, die Landschaft würde ihre Schönheit wiedergewinnen und ihn in sich aufnehmen; das unvordenkliche Alter der Berge und ihre feinmaschige Besiedelung mit Lebewesen würde ihn daran erinnern, daß er [97]  ein Teil dieser Ordnung war und als solcher unbedeutend, und er wäre erlöst.
    Heute freilich ließ dieser heilsame Prozeß länger als sonst auf sich warten. Er war eineinhalb Stunden gelaufen, und noch immer suchte er gewisse Felsblöcke vor sich danach ab, was sich hinter ihnen verbergen mochte, und betrachtete die düstere Steilwand aus Fels und Gras am Ende des Tales mit unbestimmtem Grauen. Noch immer quälten ihn Wortfetzen aus seinem Gespräch mit Vernon. Die Weite, die seine Sorgen bedeutungslos erscheinen lassen sollte, ließ alles bedeutungslos erscheinen: Jedes Bestreben schien sinnlos. Insbesondere Sinfonien: schwache Signale, Schwulst, zum Scheitern verurteilte Versuche, einen Berg aus Klängen aufzutürmen. Leidenschaftliches Bemühen. Und wozu? Geld. Anerkennung. Unsterblichkeit. Ein Verfahren, den blinden Zufall zu leugnen, der uns hervorgebracht, und der Angst vor dem Tod zu wehren. Er blieb stehen, um sich die Schnürsenkel fester zu binden. Ein Stück weiter zog er seinen Pullover aus und nahm einen tiefen Schluck aus der Feldflasche, um den Geschmack des Räucherherings loszuwerden, den er unklugerweise zum Frühstück gegessen hatte. Dann mußte er gähnen und dachte an das Bett in seinem kleinen Zimmer. Er war doch wohl noch nicht müde? Aber umkehren konnte er auch nicht, nicht nach all den Anstrengungen, die er unternommen hatte, um hierherzugelangen.
    Er kam zu einer Brücke, die über den Bach führte, hielt an und setzte sich. Er mußte eine Entscheidung treffen. Er konnte den Bach hier überqueren und auf der linken Flanke rasch zum Stake Pass aufsteigen; oder er konnte bis [98]  zum Ende des Tals weiterlaufen und dann den hundert Meter hohen Steilhang zum Tongue Head hinaufkraxeln. Nach einer Kletterpartie Hand über Hand war ihm eigentlich nicht zumute, doch ebensowenig behagte ihm die Aussicht, körperlicher Schwäche oder seinem Alter nachzugeben. Schließlich beschloß er, dem Bachlauf zu folgen – vielleicht würden ihn die Strapazen einer Kletterpartie aus seiner Starre reißen.
    Eine Stunde später

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