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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Braun mit glühenden Rot- und Gelbtönen auf. Clive packte seine Regenhaut ein, verzehrte einen Apfel und überlegte sich [101]  seine Strecke. Inzwischen war er dafür, Scafell Pike zu erklimmen, ja es drängte ihn geradezu aufzubrechen. Der schnellste Aufstieg war von Esk Hause her, aber da er nun schon einmal in Schwung war, beschloß er, in nordwestlicher Richtung weiterzulaufen, zum Sprinkling Tarn und weiter zum Sty Head abzusteigen und den langwierigen Aufstieg über die Corridor Route zu wählen. Wenn er unterhalb von Great End herunterkäme und denselben Weg nach Hause nähme, den er heraufgekommen war, über das Langstrath Valley, wäre er vor Einbruch der Dämmerung wieder im Hotel.
    So machte er sich denn gemächlichen Schrittes auf den Weg zu dem verlockend breiten Bergrücken von Esk Hause. Inzwischen hatte er das Gefühl, daß, was die Kondition anbelangte, zwischen ihm und seinem Ich, als er dreißig war, doch kein so großer Unterschied bestand und daß nicht mangelnde Muskelkraft, sondern seine Gemütsverfassung ihm im Weg gestanden hatte. Wie kräftig sich seine Beine anfühlten, jetzt da seine Stimmung sich gebessert hatte!
    Er mied die breiten Trampelpfade, die die Wanderer ausgetreten hatten, und hielt in einem weiten Bogen auf die Kammlinie vor ihm zu. Dabei betrachtete er, wie es oft geschieht, sein Leben aus einer anderen Sicht und freute sich über jüngste kleinere Erfolge: die Neuausgabe einer CD mit einem frühen Orchesterwerk, eine beinahe ehrfürchtige Erwähnung seines Œuvres in einer Sonntagszeitung, die weise und humorvolle Rede, die er gehalten hatte, als er einem sprachlosen Schuljungen den Kompositionspreis zuerkannte. Clive ließ sein Werk in seiner Gesamtheit Revue [102]  passieren: wie vielgestaltig und reichhaltig es schien, wann immer er in der Lage war, es von einer höheren Warte aus zu betrachten, und wie es seine gesamte Lebensgeschichte in zusammengefaßter Form wiedergab. Und er hatte noch so viel zu tun! Liebevoll gedachte er der Menschen in seinem Leben. Vielleicht hatte er Vernon ungerecht behandelt; dieser versuchte doch nur, seine Zeitung vor dem Untergang zu bewahren und das Land vor Garmonys mitleidloser Politik zu schützen. Noch am selben Abend würde er Vernon anrufen. Ihre Freundschaft war zu wichtig, als daß er sie wegen eines einzigen Streits aufs Spiel setzen durfte. Bestimmt konnten sie sich darauf einigen, unterschiedlicher Ansicht zu sein, und weiterhin Freunde bleiben.
    Mit diesen milden Gedanken gelangte er endlich zu dem Gebirgskamm, von wo er einen Ausblick auf den langen Abstieg zum Sty Head hatte, doch was er sah, entlockte ihm einen Ausruf der Verärgerung. Eine Gruppe von Wanderern, markiert von leuchtenden Punkten fluoreszierender Orange-, Blau- und Grüntöne, zog sich über mehr als eineinhalb Kilometer hin. Es waren Schulkinder, vielleicht hundert an der Zahl, die im Gänsemarsch zum Bergsee hinunterliefen. Er würde mindestens eine Stunde brauchen, um sie alle zu überholen. Die Landschaft war augenblicklich wie verwandelt, gezähmt, zu einem zertrampelten Ausflugsziel degradiert. Er erging sich nicht in seinen üblichen Verwünschungen – die Idiotie fluoreszierender Anoraks, mit denen die Umwelt verunstaltet wurde, oder die Frage, weshalb Leute sich genötigt sahen, in so abscheulich großen Gruppen herumzulaufen –, sondern bog rechts ab, zu den Allen Crags. Kaum befand sich die Gruppe außer [103]  Sichtweite, war seine gute Stimmung wiederhergestellt. Er würde sich die kraftraubende Besteigung des Scafell Pike sparen und statt dessen den Grat entlang über Thornythwaite Fell gemächlich ins Tal zurückkehren.
    Binnen weniger Minuten, so kam es ihm vor, stand er auf der Spitze des Felsens. Er kam wieder zu Atem und beglückwünschte sich zu seiner neuen Route. Er hatte eine Wegstrecke vor sich, die in Wainwrights The Southern Fells als »abwechslungsreich« bezeichnet wurde; der Pfad führte hinauf und hinab, an kleinen Bergseen vorbei, durchquerte Sümpfe, Felsenausbisse und steinerne Plateaus, bis man zu den Gipfeln des Glaramara gelangte. Genau dies war die Aussicht, die ihn in der Woche zuvor soweit beruhigt hatte, daß er eingeschlafen war.
    Er war eine Viertelstunde gelaufen und erklomm eben einen Hang, der in einer mächtigen, schrägen, marmorierten Felsenplatte endete, als es endlich geschah, genau wie er es sich erhofft hatte: Er genoß seine Einsamkeit, er fühlte sich wohl in seinem Körper, mit seinen Gedanken

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