Amsterdam
befand er sich am Ende des Tals. Er sah sich dem ersten steilen Anstieg gegenüber und bereute seine Entscheidung. Es hatte heftig zu regnen begonnen, und was immer von der wasserundurchlässigen Kleidung behauptet wurde, in die er sich jetzt zwängte, er wußte, bei der körperlichen Anstrengung der Kletterei würde er ins Schwitzen geraten. Er mied den glitschig nassen Fels weiter unten und wählte eine Strecke, die über hohe Grasnarben führte, und in der Tat, binnen Minuten rann ihm, mit Regen vermischt, der Schweiß in die Augen. Es ärgerte ihn, daß sich sein Puls schon so bald beschleunigte und er alle drei oder vier Minuten stehenbleiben mußte, um zu verschnaufen. Ein solcher Aufstieg ging doch wohl nicht über seine Kräfte? Er trank aus seiner Feldflasche und marschierte weiter. Dabei nutzte er seine Einsamkeit, um bei jedem schwierigen Tritt laut zu ächzen und zu stöhnen.
Hätte er jemanden bei sich gehabt, hätte er einen Scherz über die Demütigungen des Älterwerdens gemacht. Aber in England hatte er keine engeren Freunden mehr, die seine Leidenschaft teilten. Alle, die er kannte, schienen vollauf damit zufrieden, ohne Wildnis auszukommen – ein Landgasthaus, Hyde Park im Frühling, mehr Auslauf brauchten [99] sie nicht. Die konnten nun wirklich nicht behaupten, im vollen zu leben. Naßgeschwitzt, keuchend hievte und stemmte er sich mit Mühe auf einen grasbewachsenen Felsvorsprung, wo er liegenblieb. Er kühlte sein Gesicht auf der Grasnarbe, während der Regen auf seinen Rücken prasselte, und verfluchte seine Freunde als Langweiler ohne jede Lebenslust. Sie hatten ihn im Stich gelassen. Niemand wußte, wo er sich befand, und niemand machte sich auch nur das mindeste daraus.
Nachdem er fünf Minuten lang gelauscht hatte, wie der Regen auf das Material seiner wasserundurchlässigen Kleidung trommelte, erhob er sich und kletterte weiter. Aber war denn der Lake District überhaupt eine Wildnis? Von Wanderern plattgetreten, war noch der letzte unbedeutende Geländepunkt ausgeschildert und wurde selbstgefällig gefeiert. Eigentlich war das Ganze nichts weiter als eine gigantische braune Turnhalle und dieser Anstieg eine grasbewachsene Sprossenwand. Fitneßtraining im Regen. Weitere entkräftende Gedanken suchten ihn heim, als er auf den Paß zukletterte, doch als er an Höhe gewann und der Aufstieg nicht mehr ganz so steil war, als der Regen nachließ und ein langer Riß in der Wolkendecke ihm den winzigen Trost schwacher Sonnenstrahlen verschaffte, stellte es sich endlich ein – er begann sich wohl zu fühlen. Vielleicht war es ja nichts anderes als die Wirkung der Endorphine, die durch die Betätigung der Muskeln freigesetzt wurden, oder er hatte schlicht und einfach zu einem Rhythmus gefunden. Oder es war der von Bergwanderern hochgeschätzte Augenblick, wenn man einen Paß erreichte, die Wasserscheide zu überqueren begann und sich neue Höhen [100] und Täler ins Blickfeld schoben – Great End, Esk Pike, Bowfell. Jetzt war die Bergwelt wunderbar.
Inzwischen auf beinahe ebenem Gelände, lief er über die Grasbüschel zu dem Pfad, der die Wanderer von Langdale heraufführte. Im Sommer war dies eine deprimierend überlaufene Wegstrecke, heute dagegen sah man nur einen einsamen, in Blau gekleideten Wanderer, der die weite Moorlandschaft durchquerte und zielstrebig auf Esk Hause zueilte wie zu einem Stelldichein. Als Clive näher kam, sah er, daß es eine Frau war, was ihn bewog, sich in die Rolle ihres Liebhabers zu versetzen. Dies war die heimliche Zusammenkunft, die sie so sehnlichst herbeigewünscht hatte: Er wartete auf sie an einem einsamen Bergsee, rief, als sie sich näherte, ihren Namen, entnahm seinem Rucksack den Champagner und zwei silberne Flöten und ging auf sie zu… Clive hatte noch nie eine Geliebte oder auch nur eine Ehefrau gehabt, die gerne wanderte. Einmal war Susie Marcellan, die für alles Neue zu haben war, in die Catskills mitgekommen und hatte sich als hilflose Manhattan-Exilantin entpuppt, die den lieben langen Tag über Insekten, Blasen und einen Mangel an Taxis klagte.
Als er den Pfad erreichte, befand sich die Frau einen Dreiviertelkilometer vor ihm und hielt sich immer weiter nach rechts, in Richtung der Allen Crags. Er blieb stehen, um sie davonziehen zu lassen und das weite Hochplateau allein für sich zu haben. Der Riß im Himmel weitete sich, und hinter ihm, auf Rosthwaite Fell, polierte ein auf das Farnkraut fallender Lichtstrahl das allgegenwärtige
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