Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
wahre Wonne.«
    Heute hatten sich sämtliche Zeitungen einschließlich der Qualitätsblätter genötigt gesehen, verwandte Features zu bringen. Jeder Bildunterschrift, jedem eiligst recherchierten neuen Aspekt war Widerstreben und Neid anzumerken. Der Independent tischte einen abgedroschenen Artikel über den Schutz der Privatsphäre in zehn verschiedenen Ländern auf. Der Telegraph hatten einen Psychologen aufgetrieben, der hochtrabend über Transvestismus dozierte, und der Guardian verwandte eine ganze Doppelseite auf einen höhnisch-aufgeklärten Bericht über Transvestiten im öffentlichen Leben, der von einem Foto J. Edgar Hoovers im Cocktailkleid beherrscht wurde. Keine dieser Zeitungen brachte es über sich, den Judge zu erwähnen. Der Mirror und die Sun konzentrierten sich auf Garmony und seinen Bauernhof in Wiltshire. Beide Zeitungen brachten ähnlich grobkörnige, mit dem Teleobjektiv aufgenommene Fotos des Außenministers und seines Sohnes, wie sie im Dunkel eines Stalls verschwanden. Die riesigen Türen standen weit offen, und die Art, wie das Licht zwar auf Garmonys Schultern, aber nicht auf seine Arme fiel, ließ auf einen Mann schließen, der kurz davor stand, in Vergessenheit zu geraten.
    Zwischen dem zweiten und dem dritten Stockwerk drückte Frank auf einen Knopf, um den Fördermechanismus anzuhalten, und mit einem entsetzlichen Ruck, bei dem sich Vernons Herz zusammenkrampfte, kam der Aufzug zum Stehen. Ächzend schwankte die reich mit Messing und Mahagoni ausgekleidete Fahrkabine über dem Schacht. [133]  Sie hatten früher schon einmal zwei gehetzte Besprechungen dieser Art abgehalten. Der Chefredakteur sah sich genötigt, seinen Schrecken zu verhehlen und sich unbekümmert zu geben.
    »Nur ganz kurz«, sagte Frank. »Auf der Konferenz wird McDonald eine kleine Rede halten. Er wird nicht zugeben wollen, daß sie unrecht hatten, dir aber auch nicht ganz verzeihen. Aber du weißt schon, rundum Glückwünsche, und da wir die Sache nun schon mal durchziehen, laßt uns zusammenhalten.«
    »Schön«, sagte Vernon. Das würde köstlich werden, dem stellvertretenden Chefredakteur zuzuhören, wie er sich, ohne es sich anmerken lassen zu wollen, entschuldigte.
    »Die Sache ist die, andere schließen sich vielleicht an, vielleicht gibt es sogar Applaus, etwas in der Art. Wenn du nichts dagegen hast, werde ich mich zurückhalten und meine Karten zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufdecken.«
    Vernon verspürte eine leichte, flüchtige innere Unruhe, als würde ein angespannter Muskel zucken. Neugier und Argwohn hielten ihn gleichermaßen gefangen, aber es war zu spät, jetzt noch irgend etwas zu unternehmen, und so sagte er: »Gewiß. Ich behalte dich in der Hinterhand. In den nächsten Tagen könnte es darauf ankommen.«
    Frank drückte wieder auf den Knopf, und einen Augenblick lang geschah nichts. Dann sackte die Fahrkabine einige Zentimeter ab, ehe sie aufwärts ruckte.
    Wie gewöhnlich stand Jean auf der anderen Seite der Falttür mit einem Bündel von Briefen, Faxen und Instruktionen.
    »Man wartet in Raum 6 auf Sie.«
    [134]  Die erste Besprechung war mit dem Anzeigenleiter und seinem Team. Er hielt den Augenblick für gekommen, die Anzeigenpreise anzuheben. Vernon zögerte noch. Als sie den – wie in seinen Träumen mit rotem Teppich ausgeschlagenen – Korridor entlanghasteten, fiel ihm auf, daß Frank sich in dem Moment aus der Gruppe löste, als zwei weitere Mitarbeiter, Leute aus der Graphik, dazustießen. Sie drängten darauf, das Titelbild zu beschneiden, um Platz für ein längeres Lead zu schaffen, doch Vernon hatte sich bereits entschieden, was für einen Artikel er wollte. Manny Skelton, Redakteur für Nachrufe, trippelte seitlich aus seinem wandschrankgroßen Büro und drückte Vernon im Vorübergehen ein paar maschinengeschriebene Seiten in die Hand. Das war bestimmt der Artikel, den sie für den Fall, daß Garmony zum Strick griff, in Auftrag gegeben hatten. Der Leserbriefredakteur gesellte sich zu der Gruppe in der Hoffnung auf ein paar Worte, bevor die erste Besprechung begann. Er rechnete mit einer Flut von Leserbriefen und kämpfte um eine ganze Seite. Als Vernon auf Raum 6 zueilte, war er wieder ganz er selbst, großzügig, freundlich, skrupellos und gut. Wo andere eine Last auf ihren Schultern verspürt hätten, empfand er eine beflügelnde Leichtigkeit, ja ein Licht, eine Glut der Kompetenz und des Wohlgefühls, traf er doch Anstalten, mit sicheren Händen ein Geschwür aus den

Weitere Kostenlose Bücher