Amsterdam
Organen des Staatskörpers zu schneiden – dies war das Bild, das er in dem Leitartikel zu verwenden gedachte, der auf Garmonys Rücktritt folgen sollte. Heuchelei würde entlarvt werden, das Land in Europa verbleiben, Todesstrafe und Wehrpflicht wären nichts als der Traum eines Wirrkopfs, der Sozialstaat würde in der einen [135] oder anderen Form überleben, die Umwelt eine anständige Chance erhalten. Beinahe hätte Vernon ein Lied angestimmt.
Er tat es nicht, aber die nächsten beiden Stunden hatten den Schwung einer komischen Oper, in der jede Arie ihm zugedacht war und in der ein wechselnder gemischter Chor ihn pries und zugleich wohlklingend seine Gedanken wiedergab. Dann war es elf Uhr, und zur Vormittagskonferenz drängten sich mehr Menschen als gewöhnlich in Vernons Büro. Verantwortliche Redakteure, ihre Stellvertreter und Assistenten sowie andere Journalisten saßen dicht an dicht auf jedem Stuhl, lümmelten sich an jeder freien Wand und hockten auf Fensterbrettern und Heizkörpern. Andere, die sich nicht mehr ins Zimmer quetschen konnten, standen in der offenen Tür. Als der Chefredakteur sich vorsichtig auf seinem Stuhl niederließ, verstummte jedes Gespräch. Die Art, wie er so wie stets ohne einführende Worte begann und sich an die Routine hielt, war überaus verwegen – ein paar Minuten Blattkritik, dann ging er die Listen durch. Heute würde es natürlich kein Gerangel um die Titelseite geben. Vernons einziges Zugeständnis bestand darin, die gewöhnliche Reihenfolge umzudrehen, so daß die Inlandsseiten und die Politik als letztes drankamen. Der Sportredakteur hatte einen Hintergrundartikel über die Olympischen Spiele in Atlanta und einen Beitrag, in dem über den Zustand der britischen Tischtennisdoppel gejammert wurde. Der Literaturredakteur, der noch nie zuvor so rechtzeitig zur Arbeit gekommen war, daß er der Vormittagskonferenz beigewohnt hätte, faßte mit einschläfernder Stimme einen [136] Roman über Eßkultur zusammen, der sich so prätentiös anhörte, daß Vernon ihm das Wort abschneiden mußte. Das Feuilleton berichtete über eine Finanzierungskrise, und Lettice O’Hara aus der Feature-Redaktion war endlich soweit, daß sie ihren Artikel über den holländischen Ärzteskandal bringen konnte. Zu Ehren des Anlasses hatte sie darüber hinaus ein Feature über Industrieabwässer anzubieten, die männliche Fische in weibliche verwandelten.
Als der Ressortleiter Ausland das Wort ergriff, richtete sich aller Aufmerksamkeit auf ihn. Es finde ein Treffen der europäischen Außenminister statt, an dem Garmony teilnehmen werde – sofern er nicht sofort zurücktrete. Als diese Möglichkeit ins Gespräch gebracht wurde, durchlief ein aufgeregtes Gemurmel den Raum. Vernon erteilte Harvey Straw, dem politischen Redakteur, das Wort, der sich über die Geschichte von Politikerrücktritten verbreitete. In letzter Zeit habe es davon nicht allzu viele gegeben, es handele sich eindeutig um eine aussterbende Kunst. Der Premierminister, dessen Sinn für persönliche Freundschaft und Loyalität stark, dessen politischer Instinkt hingegen schwach entwickelt sei, werde an Garmony vermutlich so lange festhalten, bis dieser zum Rücktritt genötigt sei. Dadurch werde sich die ganze Affäre in die Länge ziehen, was dem Judge nur recht sein könne.
Auf Vernons Veranlassung bekräftigte der Vertriebsleiter die letzten Zahlen – die besten seit siebzehn Jahren. Da schwoll das Gemurmel zu einem Getöse an, und als frustrierte Journalisten, die in Jeans Vorzimmer standen, beschlossen, gegen den Wall aus Leibern anzustürmen, geriet die Menschentraube in der Tür ins Schwanken und [137] Stolpern. Vernon schlug auf den Tisch, um die Versammlung zur Ordnung zu rufen. Sie mußten noch Jeremy Ball, den Ressortleiter Inland, anhören, der genötigt war, seine Stimme zu heben; ein des Mordes angeklagter zehnjähriger Junge kam heute vor Gericht; der Frauenschänder vom Lake District hatte zum zweiten Mal innerhalb einer Woche zugeschlagen, und am Vorabend war ein Mann festgenommen worden; vor der Küste von Cornwall gab es eine Ölpest. Aber niemand interessierte sich so richtig dafür, denn es gab nur ein Thema, nach dem die Menge gierte, und endlich tat Ball ihr den Gefallen; der heutige Leitartikel müsse sich mit dem Brief eines Bischofs an die Church Times auseinandersetzen, in dem der Judge wegen der Affäre Garmony angegriffen wurde; es müsse über eine Versammlung der Hinterbänkler der
Weitere Kostenlose Bücher