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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Brüste und den raffiniert enthüllten BH -Träger, das schwache Rouge des Make-up auf den Wangenknochen, die Liebkosung des Lippenstifts, der den geschwungenen, leicht gespitzten Mund nachzeichnete, den intimen, sehnsüchtigen Blick eines verwandelten, doch mühelos erkennbaren öffentlichen Gesichts. Darunter, auf Mitte, eine einzige Zeile in 32   Punkt halbfett: »Julian Garmony, Außenminister«. Sonst enthielt die Seite nichts.
    Die Menge, die eben noch so gelärmt hatte, war jetzt völlig gefügig, und das Schweigen dauerte mehr als eine halbe Minute an. Dann räusperte sich Vernon und erläuterte die Strategie für Samstag und Montag. Wie später ein junger Journalist in der Kantine zu einem anderen bemerkte, war es, als wohne man der öffentlichen Entkleidung und Auspeitschung eines Menschen bei, den man kenne. Entlarvt und bestraft. Dennoch – als die Mitarbeiter sich zerstreuten und an ihre Schreibtische zurückkehrten – setzte sich die allgemeine Auffassung durch, die sich am frühen Nachmittag noch festigte, daß es sich um eine höchsten professionellen Ansprüchen genügende Arbeit handle. Als Titelseite werde sie mit Sicherheit zum Klassiker avancieren und dermaleinst an Journalistenschulen gelehrt werden. Die visuelle Wirkung war unvergeßlich, ebenso die Schlichtheit, die Unverblümtheit, die Aussagekraft. McDonald hatte [141]  recht, Vernon besaß einen untrüglichen Instinkt. Wenn er den gesamten Text auf die zweite Seite packte und der Versuchung widerstand, eine gellende Schlagzeile oder eine wortreiche Bildunterschrift zu finden, bewies er sicheres Gespür. Er kannte die Schlagkraft dessen, was er in der Hand hatte. Er ließ das Bild für sich selbst sprechen.
    Als der letzte sein Büro verlassen hatte, schloß Vernon die Tür und lüftete gründlich, indem er die Fenster weit aufstieß, um die feuchte Märzluft hereinzulassen. Er hatte fünf Minuten bis zu seiner nächsten Besprechung, und er mußte nachdenken. Über die Sprechanlage ließ er Jean wissen, daß er nicht gestört werden wolle. Der Gedanke schwirrte ihm im Kopf herum – das ist gutgegangen, das ist gutgegangen. Aber da war noch etwas, etwas Wichtiges, eine neue Information, auf die er hatte eingehen wollen, dann war er abgelenkt worden, danach hatte er sie vergessen, mit einem Schwarm anderer, ähnlicher Gedanken war sie ihm entfallen. Es war eine Randbemerkung, ein hingeworfener Satz, der ihn erstaunt hatte. Er hätte sofort reagieren sollen.
    Erst am späten Nachmittag, als er ein zweites Mal allein war, fiel er ihm wieder ein. Er stellte sich vor die weiße Tafel und versuchte, noch einmal den flüchtigen Geschmack der Überraschung zu kosten. Er schloß die Augen und versuchte, sich den Verlauf der Vormittagskonferenz ins Gedächtnis zurückzurufen, alles, was gesagt worden war. Aber er konnte seine Gedanken nicht auf die Aufgabe konzentrieren, sondern ließ sich willenlos treiben. Es ging gut, es ging gut. Wenn diese eine kleine Sache nicht gewesen wäre, hätte er sich selbst umarmt und wäre auf dem Schreibtisch herumgehopst. Es war wie am Morgen, als er im Bett [142]  gelegen und über seinen Erfolg nachgesonnen hatte und ihm das vollkommene Glück versagt geblieben war, nur weil Clive sein Handeln mißbilligte.
    Da fiel es ihm wieder ein. Kaum hatte er an den Namen seines Freundes gedacht, fiel es ihm wieder ein. Er ging durchs Zimmer zum Telefon. Es war ganz einfach, und womöglich ein Skandal.
    »Jeremy? Könntest du bitte auf einen Augenblick in mein Büro kommen?«
    In weniger als einer Minute war Jeremy Ball bei ihm. Vernon bot ihm einen Stuhl an und begann ein regelrechtes Verhör. Er notierte sich Orte, Daten, Zeiten, was bekannt war, was vermutet wurde. Einmal griff Ball zum Telefon, um sich von dem Journalisten, der an der Story arbeitete, Einzelheiten bestätigen zu lassen. Sobald der Ressortleiter Inland gegangen war, benutzte Vernon die eigene Leitung, um Clive anzurufen. Wieder wurde der Hörer mit umständlichem Geklapper abgenommen, wieder raschelte das Bettzeug, wieder klang die Stimme belegt. Es war nach vier, was war denn nur los mit Clive, daß er den ganzen Tag im Bett lag wie ein deprimierter Teenager?
    »Ach, Vernon, ich wollte gerade…«
    »Hör mal, heute morgen hast du etwas gesagt. Ich muß dich danach fragen. An welchem Tag warst du im Lake District?«
    »Vorige Woche.«
    »Clive, es ist wichtig. An welchem Tag?«
    Ein Stöhnen und ein Knarren, während Clive sich mit Mühe

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