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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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ursprünglichen Preises zahlen, um den Abschluß zu tätigen. Inzwischen kam es ihm merkwürdig vor, daß er vor nicht allzu langer Zeit unter tauber Kopfhaut und einem Gefühl der Nichtexistenz gelitten hatte, welches in ihm Furcht vor Umnachtung und vor dem Tod auslöste. Mollys Beerdigung hatte ihm eine Heidenangst eingejagt. Jetzt füllten sein Vorhaben und sein Dasein ihn bis in die Fingerspitzen aus. Die Story war prall vor Leben, und er nicht minder.
    Doch eine Kleinigkeit verwehrte ihm ein vollkommenes Glücksgefühl: Clive. Innerlich hatte er so oft mit ihm [123]  gesprochen – seine Argumente zugespitzt, all das nachgetragen, was er an dem bewußten Abend hätte vorbringen sollen –, daß er fast überzeugt war, seinen alten Freund für sich gewinnen zu können, so wie er über die Dinosaurier im Herausgebergremium triumphierte. Aber seit ihrem Streit hatten sie nicht mehr miteinander geredet, und Vernons Sorgen wuchsen, je näher der Tag der Veröffentlichung heranrückte. War Clive am Grübeln, war er ihm böse, oder hatte er sich, vertieft in seine Arbeit und ohne jeden Sinn für öffentliche Angelegenheiten, in sein Atelier eingeschlossen? Im Verlauf der Woche hatte Vernon mehrere Male daran gedacht, sich einen Augenblick Zeit zu nehmen, um ihn anzurufen. Indes befürchtete er, daß ihn ein neuerlicher Angriff von seiten Clives für die bevorstehenden Sitzungen aus dem seelischen Gleichgewicht bringen würde. Vernon betrachtete das Telefon, das hinter den aufeinandergetürmten und zerwühlten Kopfkissen auf dem Nachttisch stand, dann faßte er sich ein Herz. Am besten ließ er sich nicht von Vorahnungen wieder zum Feigling machen. Er mußte diese Freundschaft retten. Am besten tat er es, solange er noch gelassen war. Er hörte schon das Freizeichen, als er bemerkte, daß es erst acht Uhr fünfzehn war. Viel zu früh. Tatsächlich, die Art, wie Clive tastend und klappernd den Hörer abnahm, deutete auf die Lähmung eines jäh aus dem Schlaf gerissenen Menschen.
    »Clive? Ich bin’s, Vernon.«
    »Was?«
    »Vernon. Ich habe dich geweckt. Tut mir leid…«
    »Nein, nein. Durchaus nicht. Ich stand gerade am Telefon und dachte…«
    [124]  Im Hörer raschelten die Laken, als Clive sich im Bett zurechtsetzte. Warum lügen wir am Telefon so oft, was unseren Schlaf betrifft? Ist es unsere Schutzlosigkeit, die wir verteidigen? Als er den Hörer wieder zur Hand nahm, klang seine Stimme nicht ganz so belegt.
    »Ich wollte dich anrufen, aber nächste Woche habe ich in Amsterdam Proben. Ich habe ziemlich geschuftet.«
    »Ich auch«, sagte Vernon. »Die ganze Woche über hatte ich keine freie Minute. Hör mal, ich wollte mich noch einmal mit dir über die Fotos unterhalten.«
    Es entstand eine Pause. »Ach ja. Die. Ich nehme an, du ziehst die Sache durch?«
    »Ich habe eine ganze Reihe Gutachten eingeholt, und es besteht Einvernehmen, daß wir die Fotos veröffentlichen sollten. Morgen.«
    Clive räusperte sich leise. Er klang bemerkenswert gelassen. »Nun, ich habe meine Meinung dazu geäußert. Wir müssen uns eben darauf einigen, unterschiedlicher Ansicht zu sein.«
    Vernon sagte: »Ich möchte nicht, daß das zwischen uns steht.«
    »Natürlich nicht.«
    Das Gespräch wandte sich anderen Themen zu. Natürlich berichtete Vernon nur summarisch, wie seine Woche verlaufen war. Clive erzählte ihm, er habe die Nächte durchgearbeitet und mache große Fortschritte mit seiner Sinfonie, es sei eine ausgezeichnete Idee gewesen, im Lake District wandern zu gehen.
    »Ach ja«, sagte Vernon. »Wie war’s denn?«
    »Ich bin über diese Höhe namens Allen Crags gelaufen. [125]  Da gelang mir der Durchbruch, die pure Eingebung, eine Melodie, verstehst du…«
    An dieser Stelle hörte Vernon den Piepton eines eingehenden Anrufs. Zwei-, dreimal, dann verstummte er. Jemand aus der Redaktion. Vermutlich Frank Dibben. Der Tag, der letzte und wichtigste Tag, kam in die Gänge. Er saß nackt auf der Bettkante und griff nach seiner Armbanduhr, um sie mit dem Wecker zu vergleichen. Clive war ihm nicht böse, darüber brauchte er sich also keine Sorgen zu machen, und jetzt mußte er los.
    »…da, wo ich stand, konnten sie mich nicht sehen, und die Sache sah gefährlich aus, aber ich mußte eine Entscheidung treffen…«
    »Mmm«, wiederholte Vernon etwa alle halbe Minute. Er hatte die Schnur des Telefons so weit gedehnt, wie es irgend ging, balancierte auf einem Fuß und angelte mit dem anderen nach frischer Unterwäsche, die auf

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