Amsterdam
einem Stapel lag. Zum Duschen hatte er keine Zeit mehr. Zur Naßrasur auch nicht.
»…und wer weiß, vielleicht hätte er sie zu Brei geschlagen. Andererseits…«
»Mmm.«
Vernon hatte den Hörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt und versuchte, ein Hemd aus seiner Cellophanverpackung herauszulösen, ohne Lärm zu machen. Geschah es aus Langeweile oder aus Sadismus, daß die Leute in der Wäscherei unbedingt jeden einzelnen Knopf zuknöpfen mußten?
»…einen Kilometer weiter und fand einen Felsen, den ich als eine Art Tisch benutzen konnte.«
[126] Vernon war schon halb in seine Hose gestiegen, als es wieder piepte – der eingehende Anruf. »Selbstverständlich«, sagte er. »Ein Felsentisch. Jeder normale Mensch würde einen benutzen. Aber Clive, ich komme zu spät zur Arbeit. Muß losdüsen. Wie wär’s morgen mit einem Drink?«
»Oh. Na schön. Gut. Komm nach der Arbeit vorbei.«
[127] 3
Vernon zwängte sich aus dem Fond des winzigen Autos, das seine Zeitung ihm zugestand, und blieb auf dem Bürgersteig vor dem Redaktionsgebäude stehen, um seinen zerknitterten Anzug glattzustreichen. Als er durch die Eingangshalle aus schwarzem und rötlichbraunem Marmor schritt, sah er Dibben am Fahrstuhl warten. Frank war an seinem achtundzwanzigsten Geburtstag stellvertretender Ressortleiter Ausland geworden. Vier Jahre und drei Chefredakteure später war er immer noch da und, wie gemunkelt wurde, ruhelos. Wegen seines hohlen Blicks nannte man ihn Cassius, aber das war ungerecht: Seine Augen waren dunkel, sein Gesicht lang und bleich, sein Bartwuchs kräftig, was ihm das Aussehen eines Vernehmungsbeamten in der Zelle einer Polizeiwache verlieh, aber er hatte ein höfliches, wenn auch etwas zurückhaltendes Benehmen und strahlte eine gewinnende ironische Intelligenz aus. Vernon hatte ihn stets auf vage Art verabscheut, doch in den ersten Tagen nach dem Aufruhr wegen Garmony hatte er sich zu Frank bekehrt. An dem Abend, als die Gewerkschaftsgruppe dem Chefredakteur das Mißtrauen ausgesprochen und Vernon seinen Pakt mit Clive geschlossen hatte, war der junge Mann auf der dämmrigen Straße Vernons zusammengekrümmter Gestalt nachgeschlichen, hatte sich ihm endlich genähert, ihn an der Schulter berührt und ihm einen [128] Drink vorgeschlagen. Dibbens Tonfall hatte etwas Überzeugendes.
Sie betraten ein Vernon unbekanntes Pub in einer Seitengasse, ein schummriges Lokal mit zerschlissenem rotem Plüsch und verqualmter Luft, und nahmen in einer Nische hinter einer riesigen Jukebox Platz. Bei Gin-Tonic gestand Frank dem Chefredakteur seine heimliche Empörung über den Gang der Dinge. Das Votum am Vorabend sei von den üblichen Aufwieglern in der Gewerkschaftsgruppe eingefädelt worden, deren Nörgeleien und Streitereien Jahre zurückreichten, und er, Frank, habe sich unter Berufung auf den Arbeitsdruck von der Versammlung ferngehalten. Es gebe andere, die genauso dächten wie er, die sich wünschten, daß der Judge breitere Kreise erreichte, lebhafter würde und etwas Gewagtes unternähme, wie Garmony hereinzulegen, doch auf allen Schalthebeln der Stellenbesetzung und der Beförderung laste die bleierne Hand der Grammatiker. Die alte Garde würde das Blatt lieber eingehen lassen, als eine Leserschaft unter dreißig anzusprechen. Sie habe das größere Schriftbild bekämpft, die Lifestyle-Seiten, das Horoskop, die kostenlose Gesundheitsbeilage, die Klatschkolumne, das virtuelle Bingo und den Briefkastenonkel, ebenso eine schmissigere Berichterstattung über die königliche Familie und Popmusik. Jetzt greife sie den einzigen Chefredakteur an, der den Judge noch retten könne. Unter den jüngeren Angestellten gebe es Unterstützung für Vernon, doch finde sie keinen Ausdruck. Niemand wolle als erster aufstehen und abgeschmettert werden.
Vernon, der sich plötzlich leichtfüßig fühlte, ging zur Theke, um eine zweite Runde zu bestellen. Offenbar [129] wurde es Zeit, daß er auf die jüngeren Angestellten hörte, daß er sie auf die Bildfläche rief. Als er sich wieder an den Tisch setzte, zündete sich Frank eine Zigarette an und drehte sich auf seinem Stuhl höflich von ihm weg, um den Rauch aus der Nische zu blasen. Er nahm den Drink an und fuhr fort. Natürlich habe er die Bilder nicht gesehen, aber er wisse, daß es richtig sei, sie abzudrucken. Er wolle Vernon seiner Unterstützung versichern, mehr noch, er wolle sich nützlich machen. Deswegen sei es nicht günstig, sich offen als Verbündeter des
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