Amsterdam
aufsetzte.
»Es muß Freitag gewesen sein. Was ist denn…?«
[143] »Der Mann, den du gesehen hast, nein, warte. Um wieviel Uhr warst du auf Allen Crags?«
»So gegen eins, würde ich sagen.«
»Hör zu. Der Typ, den du gesehen hast, der die Frau überfallen hat, und du hattest beschlossen, ihr nicht zu helfen. Das war der Frauenschänder vom Lake District.«
»Noch nie gehört.«
»Liest du denn gar keine Zeitungen? Letztes Jahr hat er acht Frauen überfallen, meistens Wandrerinnen. Zufällig ist diese hier noch einmal davongekommen.«
»Das ist aber eine Erleichterung.«
»Nein, eben nicht. Vor zwei Tagen hat er eine andere überfallen. Gestern ist er festgenommen worden.«
»Na, dann ist doch alles gut.«
»Nein, ist es eben nicht. Du wolltest der Frau nicht helfen. Schön. Aber wenn du hinterher zur Polizei gegangen wärst, hätte es die andere Frau nicht erwischt.«
Es entstand eine kleine Pause, als Clive die Neuigkeit verdaute oder sich sammelte. Inzwischen war er hellwach, und seine Stimme hatte sich verhärtet.
Er sagte: »Das folgt zwar daraus nicht, aber egal. Warum wirst du so laut, Vernon? Ist das einer von deinen manischen Zuständen? Was willst du eigentlich?«
»Ich will, daß du zur Polizei gehst und meldest, was du gesehen hast…«
»Kommt nicht in Frage.«
»Du könntest den Mann identifizieren.«
»Ich stehe kurz davor, eine Sinfonie fertigzustellen, die…«
»Nein, verdammt, das tust du nicht. Du liegst im Bett.«
[144] »Das geht dich nichts an.«
»Das ist unerhört. Geh zur Polizei, Clive. Das ist deine moralische Pflicht.«
Clive atmete deutlich ein, dann legte er eine Pause ein, als wolle er es sich noch einmal überlegen, dann: »Du willst mich über meine moralischen Pflichten belehren? Ausgerechnet du?«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine diese Fotos. Ich meine deine Bereitschaft, auf Mollys Grab zu scheißen…«
Der Hinweis auf Exkremente an einer nicht vorhandenen Grabstätte bezeichnete den Wendepunkt in einem Streit, von dem an es kein Zurück mehr gibt und man kein Blatt mehr vor den Mund nimmt. Vernon unterbrach ihn. »Du weißt nichts, Clive. Du führst ein privilegiertes Leben und hast von Tuten und Blasen keine Ahnung.«
»…ich meine, einen Mann aus dem Amt jagen. Ich meine die Skandalpresse. Wie kannst du damit leben?«
»Blas dich nur auf, soviel du willst. Du hast doch nicht mehr alle Tassen im Schrank. Wenn du nicht zur Polizei gehst, werde ich selbst anrufen und berichten, was du gesehen hast. Mitschuldig an einer versuchten Vergewaltigung…«
»Bist du verrückt geworden? Wie kannst du es wagen, mir zu drohen!«
»Es gibt gewisse Dinge, die wichtiger sind als Sinfonien, genannt Menschen.«
»Und sind diese Menschen so wichtig wie deine Auflagenziffern, Vernon?«
»Geh zur Polizei.«
[145] »Ach, du kannst mich mal.«
»Du mich auch.«
Plötzlich ging die Tür zu Vernons Büro auf, und vor ihm stand Jean und wand sich vor Besorgnis. »Es tut mir leid, daß ich Sie in einem privaten Gespräch unterbreche, Mr. Halliday«, sagte sie. »Aber ich glaube, Sie sollten den Fernsehapparat einschalten. Mrs. Julian Garmony gibt gerade eine Pressekonferenz. Erstes Programm.«
[146] 4
Die Parteimanager hatten die Angelegenheit des langen und breiten erörtert und einige sinnvolle Entscheidungen gefällt. Eine bestand darin, an diesem Morgen in einem bekannten Kinderkrankenhaus Kameras zuzulassen, um Mrs. Garmony zu filmen, wenn sie nach dem Eingriff am offenen Herzen eines neunjährigen farbigen Mädchens namens Candy erschöpft, aber glücklich aus dem Operationssaal träte. Auch auf Visite wurde die Chirurgin gefilmt, gefolgt von ehrerbietigen Schwestern und Ärzten und umarmt von den Kindern, die sie offenkundig abgöttisch liebten. Anschließend kam es, von der Kamera beiläufig eingefangen, auf dem Parkplatz des Krankenhauses zu einer tränenreichen Begegnung zwischen Mrs. Garmony und den dankbaren Eltern des kleinen Mädchens. Dies waren die ersten Aufnahmen, die Vernon zu Gesicht bekam, nachdem er den Hörer auf die Gabel geknallt, unter den Papieren auf seinem Schreibtisch vergebens nach der Fernbedienung gesucht hatte und zu dem Bildschirm gesprungen war, der in einer Ecke seines Büros an der Wand hing. Während der schluchzende Vater der erfolgreichen Chirurgin ein Dutzend Ananas in die Arme drückte, wurde aus dem Off erklärt, in der Ärztehierarchie könne man so hoch aufsteigen, daß die Anrede mit »Doktor«
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