Amsterdam
es wirklich nicht gesetzeswidrig? Clive ging diesen Fragen im Innern einer Boeing 757 nach, die in eisigem Nebel am nördlichen Ende des Flughafens Manchester parkte. Das Wetter sollte aufhellen, der Pilot wollte sich seinen Platz in der Schlange der abflugbereiten Maschinen sichern, und so saßen die Fluggäste in dumpfem Schweigen da und trösteten sich mit dem Getränkewagen. Es war Mittag, und Clive hatte Kaffee, Brandy und einen Riegel Schokolade bestellt. Er hatte einen Fensterplatz in einer leeren Reihe, und wo der Nebel aufriß, konnte er andere Verkehrsflugzeuge sehen, die in lockerer Formation drängelnd warteten. Sie hatten etwas Brütendes, Rüpelhaftes an sich: Schlitzaugen unter kleinen Hirnen, verkümmerte, verkrüppelte Arme, in die Höhe gereckte schwarze Hinterteile – Geschöpfe wie diese würden nie füreinander sorgen.
Die Antwort lautete ja, seine Nachforschungen und seine Planung waren akribisch gewesen. Es würde dazu kommen, und er verspürte einen Kitzel. Er hob die Hand zu der lächelnden jungen Frau mit dem kecken blauen Hut, die von seiner Entscheidung, ein zweites Minifläschchen zu nehmen, persönlich beglückt schien und privilegiert, es ihm reichen zu dürfen. Alles in allem – wenn er bedachte, was er durchlebt hatte und welche Zerreißproben ihm [181] bevorstanden und daß sich von jetzt an die Ereignisse fraglos überschlagen würden – fühlte er sich gar nicht so unwohl. Er würde die ersten Stunden der Probe versäumen, aber ein Orchester, das sich eine neue Komposition erarbeiten mußte, spielte ohnehin Katzenmusik. Vielleicht war es vernünftiger, den ganzen ersten Tag zu verpassen. Seine Bank hatte ihm versichert, es sei gesetzlich erlaubt, in seiner Aktentasche zehntausend US -Dollar mitzuführen, und am Flughafen Schiphol schulde er niemandem eine Erklärung. Was die Polizeiwache in Manchester anging, so hatte er sich, wie er fand, wacker geschlagen und war mit Respekt behandelt worden. Fast empfand er einen Hauch nostalgischer Sehnsucht nach dem abwechslungsreichen Ambiente und den tatkräftigen Männern, mit denen er so gut zusammengearbeitet hatte.
Als Clive in düsterster Laune anlangte – die ganze Strecke über von Euston bis zum Bahnhof hatte er Vernon verflucht –, kam der Hauptkommissar höchstselbst zur Anmeldung, um den großen Komponisten zu begrüßen. Er schien sehr dankbar, daß Clive die weite Fahrt von London auf sich genommen hatte, um bei der Aufklärung des Falles mitzuwirken. Überhaupt schien eigentlich niemand darüber verärgert, daß Clive sich nicht schon früher gemeldet hatte. Verschiedene Polizisten äußerten, sie seien sehr froh, bei dieser Straftat auf seine Unterstützung rechnen zu können. Als er seine Aussagen machte, versicherten ihm die beiden verhörenden Kriminalbeamten, daß sie erst jetzt begriffen, wie mühsam es gewesen sein müsse, eine Sinfonie zu komponieren, ein Auftragswerk mit bedrohlich näherrückendem Ablieferungstermin, und in welchem [182] Dilemma er sich befunden habe, als er hinter jenem Felsen kauerte. Sie schienen sehr daran interessiert, all die Schwierigkeiten zu verstehen, die die Komposition der hochbedeutsamen Melodie mit sich brachte. Ob er sie ihnen wohl vorsummen könne? Aber gewiß doch. Von Zeit zu Zeit sagte einer von ihnen etwa: Jetzt erzählen Sie uns doch mal, was Sie von dem Mann gesehen haben. Es stellte sich heraus, daß der Hauptkommissar einen Studienabschluß in Englisch an der Fernuniversität anstrebte und ein besonderes Interesse an Blake hatte. Bei Schinkensandwiches in der Kantine stellte der Kommissar unter Beweis, daß er den gesamten »Giftbaum« auswendig konnte, und Clive konnte ihm von seiner Vertonung dieses Gedichts im Jahre 1978 berichten, die im darauffolgenden Jahr mit Peter Pears im Rahmen des Aldeburgh Festival uraufgeführt worden sei – und seitdem nie wieder. In der Kantine befand sich auch ein sechs Monate altes Baby, das auf zwei zusammengerückten Stühlen schlief. Die junge Mutter war in einer Zelle im Erdgeschoß eingesperrt, wo sie sich von einer Sauftour erholte. Den ganzen ersten Tag über hörte Clive ihr wehmütiges Geschrei und Gestöhn, das durch das abblätternde Treppenhaus zu ihm heraufdrang.
Er durfte das Allerheiligste des Polizeireviers betreten, dort wo die Leute verhört wurden. Als er am frühen Abend darauf wartete, noch einmal seine Aussage durchzugehen, wurde er Zeuge eines Handgemenges vor dem wachhabenden Beamten; ein großer,
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