Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
schwitzender Teenager mit geschorenem Schädel war in einem Garten aufgegriffen worden, wo er sich mit Bolzenschneider, Hauptschlüsseln, Stichsäge und Vorschlaghammer im Mantel verborgen [183]  gehalten hatte. Er sei kein Einbrecher, beharrte er, und auf keinen Fall werde er in eine Zelle gehen. Als der Wachtmeister ihm widersprach, schlug der Junge einem Polizisten ins Gesicht und wurde von zwei anderen Beamten niedergerungen, die ihm Handschellen anlegten und ihn abführten. Niemand schien sich davon stören zu lassen, nicht einmal der Polizist mit der aufgesprungenen Lippe, nur Clive faßte sich schützend an sein pochendes Herz und mußte sich setzen. Später trug ein Streifenpolizist einen blassen, stummen vierjährigen Knirps herein, den er auf dem Parkplatz eines baufälligen Pubs aufgegabelt hatte. Wiederum später kam eine in Tränen aufgelöste irische Familie, um ihn abzuholen. Zwei Mädchen, die auf ihren Haaren herumkauten, Zwillingstöchter eines gewalttätigen Vaters, suchten Schutz und wurden in einem lustigen, familiären Ton begrüßt. Eine Frau mit einem blutigen Gesicht erstattete Anzeige gegen ihren Ehemann. Eine uralte, an Knochengewebeschwund leidende Schwarze, eine zusammengekrümmte Gestalt, war von ihrer Schwiegertochter auf die Straße gesetzt worden und hatte keine Bleibe. Sozialarbeiter kamen und gingen, und die meisten sahen aus, als seien sie ebenso kriminell veranlagt oder bedauernswert wie ihre Klienten. Alles rauchte. In dem fluoreszierenden Licht sahen alle kränklich aus. Es gab viel heißen Tee in Plastikbechern, viel Gebrüll und mechanisches, einfallsloses Gefluche und viele Drohungen mit geballter Faust, die niemand ernst nahm. Es war eine einzige unglückliche Großfamilie mit häuslichen Problemen, die ihrer Natur nach unlösbar waren. Und dies war ihr Wohnzimmer. Clive versteckte sich hinter seinem ziegelsteinroten Tee. In seiner Welt [184]  geschah es selten, daß jemand die Stimme hob, und den ganzen Abend über befand er sich in einem Zustand erschöpfter Erregung. Fast alle Mitglieder der Gesellschaft, die hier eintraten, ob freiwillig oder nicht, waren heruntergekommen, und es wollte Clive scheinen, als bestehe die hauptsächliche Aufgabe der Polizei darin, sich mit den zahllosen und unvorhersagbaren Folgen der Armut zu befassen – eine Aufgabe, der sie weit geduldiger und weniger zimperlich nachkamen, als er es je vermocht hätte.
    Wenn er daran dachte, daß er sie früher einmal Bullen genannt und 1967, während eines dreimonatigen Flirts mit dem Anarchismus, argumentiert hatte, sie seien die Ursache der Kriminalität und würden eines Tages überflüssig werden! Während seines gesamten Aufenthalts wurde er höflich, wenn nicht gar ehrerbietig behandelt. Sie schienen ihn ausgesprochen zu mögen, diese Polizisten, und Clive fragte sich, ob er womöglich gewisse Qualitäten besaß, von denen er noch nie etwas geahnt hatte – ein ausgeglichenes Wesen, einen stillen Charme, vielleicht Autorität. Als es am folgenden Morgen in aller Frühe zur Gegenüberstellung kam, zeigte er sich beflissen, ihnen keine Enttäuschung zu bereiten. Er wurde auf einen Hinterhof hinausgeführt, wo die Streifenwagen abgestellt waren, und vor einer Mauer standen ein Dutzend Männer. Er erkannte seinen Kerl sofort, der dritte von rechts, der mit dem langen, dünnen Gesicht und der verräterischen Stoffmütze. Welch eine Erleichterung! Als sie wieder hineingingen, drückte einer der Kriminalbeamten Clives Arm, sagte aber nichts. Ringsum herrschte eine Stimmung verhaltener Freude, und alle mochten ihn noch mehr. Sie arbeiteten jetzt wie ein Team [185]  zusammen, und Clive hatte sich in seine Rolle als Hauptbelastungszeuge hineingefunden. Später gab es eine zweite Gegenüberstellung, und diesmal trug die Hälfte der Männer Stoffmützen, und alle hatten lange, dünne Gesichter. Aber Clive ließ sich nicht narren und fand seinen Mann, ganz am Ende, ohne Mütze. Wieder in der Wache, sagten ihm die Beamten, die zweite Gegenüberstellung sei nicht so wichtig. Aus verwaltungstechnischen Gründen würden sie sie vielleicht sogar ganz außer acht lassen. Im allgemeinen jedoch seien sie mit seiner Hingabe an die Sache zufrieden. Sie hätten einen Streifenwagen, der in Richtung Flughafen fahre. Ob er mitgenommen werden wolle?
    Er wurde direkt vor dem Terminal abgesetzt. Als er vom Rücksitz kletterte und sich verabschiedete, bemerkte er, daß der Polizist auf dem Fahrersitz ebender Mann war, den er

Weitere Kostenlose Bücher