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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Judge. In der Welt herrschte das übliche Chaos: Fische wechselten das Geschlecht, das britische Tischtennis war richtungslos, und in Holland boten ein paar unappetitliche Typen mit einem Abschluß in Medizin eine gesetzlich erlaubte Dienstleistung an: die Beseitigung eines betagten Elternteils, der einem lästig wurde. Wie interessant! Man benötigte lediglich die Unterschrift des greisen Elternteils in doppelter Ausfertigung sowie mehrere tausend Dollar. Am Nachmittag unternahm Clive einen längeren Spaziergang im Hyde Park und ließ sich den Artikel durch den Kopf gehen. Hatte er nicht mit Vernon eine Verabredung getroffen, die immerhin gewisse Verpflichtungen beinhaltete? Vielleicht [171]  sollte er einige Erkundigungen einziehen. Doch der Montag ging mit einem Anschein von Arbeit dahin, einer selbstbetrügerischen Pfuscherei, die am Abend aufzugeben er gescheit genug war. Jeder Einfall, den er hatte, war fade. Man durfte ihn nicht in die Nähe dieser Sinfonie lassen; er war seiner eigenen Schöpfung nicht würdig.
    Am Dienstag morgen wurde er von einem Anruf des Geschäftsleiters geweckt, der ihn regelrecht anbrüllte. Am Freitag seien Proben, und sie hätten immer noch keine vollständige Partitur. Noch am selben Vormittag rief ihn ein Freund an und teilte Clive die außergewöhnliche Nachricht mit. Vernon sei zur Kündigung gezwungen worden! Clive eilte auf die Straße, um die Zeitungen zu kaufen. Seit der Freitagsausgabe des Judge hatte er nichts gelesen oder gehört, sonst hätte er mitbekommen, daß die öffentliche Meinung sich gegen den Chefredakteur des Judge gekehrt hatte. Er nahm sich eine Tasse Kaffee mit ins Eßzimmer und las dort die Zeitungen. Er hatte die grimmige Genugtuung, seine Auffassung von Vernons Benehmen bestätigt zu finden. Er war seinen Verpflichtungen Vernon gegenüber nachgekommen, er hatte versucht, ihn zu warnen, doch Vernon hatte nicht auf ihn hören wollen. Nachdem er drei vernichtende Abrechnungen gelesen hatte, trat Clive ans Fenster und starrte auf die Büschel von Osterglocken, die um den Apfelbaum am Ende des Gartens wuchsen. Er mußte zugeben, daß es ihm besserging. Vorfrühling. Bald würden die Uhren umgestellt. Im April, wenn die Uraufführung der Sinfonie hinter ihm läge, würde er nach New York fliegen, um Susie Marcellan zu besuchen. Anschließend weiter nach Kalifornien, wo im Rahmen des [172]  Palo-Alto-Music-Festivals ein Stück von ihm aufgeführt werden sollte. Es entging ihm nicht, daß er mit dem Finger einen neuen Rhythmus klopfte, und er stellte sich einen Stimmungsumschlag, eine Modulation vor, einen über wechselnden Harmonien beibehaltenen Ton und ein wildes Grollen der Kesselpauken. Er wandte sich um und eilte aus dem Zimmer. Er hatte einen Einfall, ein Viertel eines Einfalls, und bevor er ihm entglitt, mußte er zum Flügel gelangen.
    Im Atelier stieß er Bücher und alte Partituren zu Boden, um eine Arbeitsfläche freizuräumen, nahm einen Bogen Notenpapier und einen angespitzten Bleistift zur Hand und hatte eben einen Violinschlüssel notiert, als unten die Türglocke schellte. Seine Hand erstarrte, und er wartete. Wieder klingelte es. Er würde nicht hinuntergehen, nicht jetzt, da er endlich mit der Variation zurechtkam. Bestimmt jemand, der vorgab, ehemaliger Bergarbeiter zu sein, um ihm irgendwelche Bügelbretthüllen anzudrehen. Wieder die Türglocke, dann Stille. Derjenige war gegangen. Einen Augenblick lang war ihm die schwache Idee entfallen. Dann fand er sie wieder, oder zumindest einen Teil davon, und malte gerade den Notenhals eines Akkords, als das Telefon klingelte. Er hätte es abstellen sollen. Gereizt riß er den Hörer von der Gabel.
    »Mr.   Linley?«
    »Ja.«
    »Polizei. Kriminalpolizei. Wir stehen draußen vor Ihrer Haustür. Würden Sie gern sprechen.«
    »Oh. Hören Sie, könnten Sie in einer halben Stunde wiederkommen?«
    [173]  »Leider nicht. Wir haben da ein paar Fragen an Sie. Vielleicht müssen wir Sie bitten, in Manchester zwei Gegenüberstellungen beizuwohnen, uns dabei zu helfen, einen Verdächtigen zu überführen. Dürfte nicht mehr als zwei Tage in Anspruch nehmen. Also, wenn Sie jetzt bitte öffnen würden, Mr.   Linley…«

[174]  2
    In ihrer Hast, zur Arbeit zu gelangen, hatte Mandy eine Kleiderschranktür so offenstehen lassen, daß der Spiegel Vernon anklagend einen schmalen, lotrechten Ausschnitt seiner selbst zeigte: auf die Kopfkissen gestützt, den Becher Tee, den sie ihm gebracht hatte, auf dem Bauch

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