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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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bei der zweiten Gegenüberstellung identifiziert hatte. Doch als sie einander die Hand schüttelten, hielten es weder Clive noch der Fahrer für notwendig, diese Tatsache zu erwähnen.

[186]  4
    Die Maschine kam mit zwei Stunden Verspätung in Schiphol an. Clive nahm den Zug zur Centraal Station, und im weichen, grauen Licht des Nachmittags begab er sich von dort zu Fuß zu seinem Hotel. Als er die Brücke überquerte, wurde ihm wieder einmal deutlich, was für eine gelassene und zivilisierte Stadt Amsterdam doch war. Er machte einen weiten Umweg nach Westen, um die Brouwersgracht entlangzuschlendern. Schließlich war sein Koffer sehr leicht. Wie tröstlich, mitten zwischen zwei Straßen über einen solchen Wasserlauf zu verfügen! Was für eine tolerante, weltoffene, erwachsene Stadt: die schönen, in geschmackvolle Wohnungen umgewandelten Speicher aus Ziegelstein und geschnitztem Fachwerk, die unprätentiösen van Goghschen Brücken, die unaufdringlichen Straßenmöbel, die intelligent und überhaupt nicht verknöchert wirkenden Holländer auf ihren Fahrrädern, hinter sich ihre ausgeglichenen Kinder. Noch die Ladenbesitzer sahen aus wie Professoren, die Straßenfeger wie Jazzmusiker. Es gab keine Stadt, die zweckmäßiger angeordnet gewesen wäre. Im Gehen dachte er an Vernon, und an die Sinfonie. War das Werk nun ganz und gar verdorben oder nur mit einzelnen Mängeln behaftet? Vielleicht nicht so sehr mit Mängeln behaftet als vielmehr besudelt, und zwar auf eine Weise, die nur er verstehen konnte. Ruinös um seinen größten [187]  Moment betrogen. Er fürchtete sich vor der Uraufführung. In gewundener Aufrichtigkeit vermochte er sich einzureden, daß er, indem er in Vernons Namen verschiedene Vorkehrungen traf, nichts weiter tat, als sein Wort zu halten. Daß Vernon sich aussöhnen und deshalb nach Amsterdam kommen wollte, war bestimmt mehr als bloßer Zufall oder eine passende Gelegenheit. In der Tiefe seines verfinsterten, verstörten Herzens hatte er sich in sein Schicksal ergeben. Er war dabei, sich Clive auszuliefern.
    Unter solchen Gedanken gelangte Clive endlich zu seinem Hotel, wo er erfuhr, daß der Empfang um halb acht abends stattfinden sollte. Von seinem Zimmer aus rief er seine Kontaktperson, den braven Doktor, an, um die Vorbereitungen und, zum letzten Mal, die Symptome durchzusprechen: unberechenbares, bizarres und extrem unsoziales Verhalten, ein vollständiger Ausfall der Vernunft. Destruktive Tendenzen, Allmachtsphantasien. Persönlichkeitszerfall. Die Frage der Basisnarkose wurde erörtert. Auf welche Weise sollte sie verabreicht werden? Es wurde ein Glas Champagner vorgeschlagen. Die festliche Note erschien Clive angemessen.
    Die Probe würde noch zwei Stunden dauern. Nachdem er das Geld in einem Umschlag an der Rezeption hinterlegt hatte, bat Clive den Portier, ihm vor dem Hotel ein Taxi heranzuwinken, und innerhalb weniger Minuten stand er vor dem seitlichen Künstlereingang des Concertgebouw. Als er die Pförtnerloge passierte und die Pendeltür aufstieß, die zur Treppe führte, drangen Orchesterklänge an sein Ohr. Der Finalsatz, natürlich, was sonst. Als er hinaufging, besserte er die Stelle bereits aus; jetzt hätte man die Hörner [188]  hören müssen, nicht die Klarinetten, und die Bezeichnung für die Pauken lautete piano. Das ist meine Musik. Es war, als riefen ihn Jagdhörner, riefen ihn zu sich selbst. Wie hatte er es nur vergessen können? Er beschleunigte seine Schritte. Er konnte hören, was er aufgeschrieben hatte. Er lief auf eine Veräußerlichung seiner selbst zu. All die einsamen Nächte. Die abscheuliche Presse. Allen Crags. Weshalb hatte er den ganzen Nachmittag vergeudet, weshalb den Augenblick hinausgezögert? Mit Mühe hinderte er sich daran, die Biegung des Korridors entlangzurennen, der zum Zuhörerraum führte. Er stieß eine Tür auf und blieb stehen.
    Wie beabsichtigt, befand er sich auf den Chorsitzen oberhalb des Orchesters, unmittelbar hinter den Schlagzeugern. Die Musiker konnten ihn nicht sehen, doch stand er genau im Blickfeld des Dirigenten. Allerdings hatte Giulio Bo die Augen geschlossen. Den Hals vorgereckt, stand er auf Zehenspitzen da, streckte den linken Arm zum Orchester hin und hob sich mit gespreizten, zitternden Fingern sanft der Posaune entgegen, die jetzt mit Dämpfer süß, weise, verschwörerisch zum ersten Mal die vollständige Melodie anstimmte, das »Nessun dorma« der Jahrhundertwende, die Melodie, die Clive erst gestern den

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