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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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leerte seinen Becher, nahm den Hörer von der Gabel und wählte die Nummer eines Freundes bei New Scotland Yard, ein Kontakt aus alten Tagen, als er noch Gerichtsreporter war. Fünfzehn Minuten später hatte er sämtliche Einzelheiten durchgegeben, die Tat war nicht mehr rückgängig zu machen, doch Vernon hing immer noch seinen Gedanken nach, verspürte immer noch keine Genugtuung. Es hatte sich herausgestellt, daß Clive sich nicht gesetzeswidrig verhalten hatte. Man würde ihn inkommodieren, damit er seiner Pflicht nachkam, mehr nicht. Aber das konnte doch nicht alles sein. Clives Verhalten durfte nicht folgenlos bleiben. Vernon grübelte eine weitere Stunde lang im Bett darüber nach, dann kleidete er sich endlich an, allerdings rasierte er sich nicht. Den Morgen verbrachte er damit, Trübsal zu blasen. Er weigerte sich, ans Telefon zu gehen. Um sich zu trösten, nahm er die Freitagsausgabe zur Hand. Ohne Frage eine glänzende Titelseite. Alle irrten. Der Rest der Zeitung hatte ebenfalls Biß, und mit ihrer holländischen Story hatte ihm Lettice O’Hara alle Ehre gemacht. Eines Tages, besonders falls Garmony Premierminister werden sollte und das Land darniederläge, würden die Leute es noch bedauern, daß sie Vernon Halliday von seinem Posten verjagt hatten.
    Doch der Trost hielt nicht lange vor, denn das war in der Zukunft, und jetzt herrschte die Gegenwart, diejenige, in der er gefeuert worden war. Er war zu Hause statt im Büro. Er kannte sich nur in einem Beruf aus, und in diesem würde ihn niemand mehr einstellen. Er war in Ungnade gefallen und zu alt, um sich umschulen zu lassen. Der Trost währte auch deswegen nicht lange, weil seine Gedanken [178]  immer wieder zu der abscheulichen Postkarte zurückkehrten, zu dem Dolch im Rücken, dem Salz in der Wunde, und je mehr der Tag verging, desto mehr stand sie für all die großen und kleinen Kränkungen der vergangenen vierundzwanzig Stunden. Die kurze Botschaft, die Clive ihm hatte zukommen lassen, verkörperte das konzentrierte Gift dieser Affäre – die Blindheit seiner Ankläger, ihre Heuchelei, ihre Rachgier und vor allem das, was Vernon als das größte aller menschlichen Laster ansah – persönliche Treulosigkeit.
    In Sprachen, in denen sich die Betonung von einer Silbe auf die andere verlagern läßt, kann es nicht ausbleiben, daß Mißverständnisse aufkommen. So wird durch die bloße Verschiebung des Wortakzents nach vorn aus einem Verb ein gänzlich anderes. Aus über setzen – der geistigen Tätigkeit des Sprachmittlers – wird im Handumdrehen über setzen – die körperliche Tätigkeit des Fährmanns. Wie in Wörtern, so in Sätzen. Was Clive am Donnerstag hatte sagen wollen und was er am Freitag eingeworfen hatte, war: Du verdienst es, entlassen zu werden. So wie Vernon es am Dienstag nach seiner Entlassung auffassen mußte, lautete es:Du verdienst es, entlassen zu werden. Wäre die Karte am Montag eingetroffen, hätte er sie in einem anderen Licht gelesen. Dies war das Komische an ihrem Schicksal; eine Eilzustellung wäre beiden Männern zustatten gekommen. Andererseits gab es für sie vielleicht keinen anderen Ausweg, und darin bestand ihre Tragik. Falls dem so war, konnte Vernon gar nicht anders, als seine Bitterkeit zu pflegen und recht opportunistisch über den Pakt nachzudenken, den die beiden Männer vor nicht allzu langer Zeit [179]  geschlossen hatten, sowie über die gewaltige Verantwortung, die er ihm aufbürdete. Denn Clive hatte eindeutig den Verstand verloren, und etwas mußte geschehen. In seinem Entschluß fühlte sich Vernon von dem Gefühl bestärkt, daß zu einem Zeitpunkt, da die Welt ihn schlecht behandelte, da sein Leben ruiniert war, ihn niemand schlechter behandelte als sein alter Freund, und das war unverzeihlich. Und verrückt. Wer über eine Ungerechtigkeit nachbrütet, dem widerfährt es mitunter, daß sich die Rachegelüste nutzbringend mit Pflichtgefühl verbinden. Die Stunden verstrichen, und Vernon nahm mehrere Male sein Exemplar des Judge zur Hand, um sich über den Ärzteskandal in Holland zu informieren. Später am Tag holte er telefonisch eigene Erkundigungen ein. Es vergingen weitere beschäftigungslose Stunden, in denen er in der Küche saß, Kaffee trank, sich den Trümmerhaufen seiner Aussichten besah und überlegte, ob er Clive anrufen und so tun solle, als sei er gewillt, Frieden zu schließen, um sich nach Amsterdam einzuladen.

[180]  3
    War auch alles geregelt? Hatte er an alles gedacht? War

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