Amy on the summer road
Begabung hast, dann finde ich es falsch, sie nicht zu nutzen, nur weil es schwierig ist oder du Angst davor hast.« Nachdem ich das gesagt hatte, machte ich eine Pause und wunderte mich, warum diese Worte so vertraut klangen.
»Lass mal gut sein«, erwiderte Lucien mit – soweit ich das im Mondlicht erkennen konnte – so verschlossener Miene, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. »Wie sollst du das auch verstehen.«
»Meine Güte«, schimpfte ich genervt und auch ein bisschen wütend. Ich merkte, wie mein Puls zulegte. Aber diesmal fühlte sich das nicht bedrohlich und unkontrollierbar an wie bei den Gesprächen mit meiner Mutter, sondern komischerweise sogar gut. »Ich kann das sogar sehr gut verstehen. Denkst du, meine Eltern wollen, dass ich Schauspielerin werde?« Ich hielt bestürzt inne, als mir klar wurde, dass ich
im Plural – und im Präsens – gesprochen hatte. »Ich meine, wollten. Und meine Mutter will es immer noch nicht. Na, egal.« Ich versuchte, diesen Punkt abzuhaken und zu dem zu kommen, was ich eigentlich sagen wollte. »Mein Vater war Geschichtsdozent.« Bei dem Wort »war« stockte ich nur ganz kurz. »Meine Mutter ist promovierte Anglistin. Sie haben dafür überhaupt kein Verständnis. Sie halten meine Ambitionen in dieser Richtung für völlig durchgeknallt. Vielleicht sind sie das ja auch, aber ich gebe sie doch nicht auf, bloß weil sie es nicht wollen. Also wollten , meine ich ...« Ich seufzte und gab es auf, die Zeitformen zu beachten. »Ich will damit sagen ...«, fügte ich hinzu.
Lucien nickte und schaute mit hängenden Schultern zu Boden.
»Also ich ...« Ich sah kurz in den Himmel und zwang mich dann weiterzureden. »Ich dachte, ich muss sterben«, erzählte ich. »Während des Unfalls dachte ich eine endlos lange Sekunde, dass alles vorbei ist. Das war es dann am Ende doch nicht, aber ... irgendwie ein bisschen schon. Als hätte ich aufgehört zu leben, um nichts mehr spüren zu müssen. Denn das, was ich hätte fühlen können, tat so unsagbar weh ...« Meine Stimme drohte wieder zu kippen, aber ich holte tief Luft, um das auszusprechen, was mir bis vor wenigen Augenblicken noch gar nicht bewusst gewesen war. »Aber seit ich unterwegs bin, auf dieser Fahrt quer durchs Land ... wird mir langsam wieder bewusst, wie es ist, lebendig zu sein und etwas zu spüren. Also, was ich eigentlich sagen will, ist nur, dass man halt nie weiß, wie viel Zeit einem noch bleibt.«
»Ich versteh schon, was du meinst«, antwortete er und lächelte mich traurig an. »Klingt auch alles ganz simpel. Aber trotzdem weiß ich nicht, ob ich das hinkriege.«
»Tja, es gibt nur einen einzigen Weg, das rauszufinden«, entgegnete ich und merkte, wie schon wieder der Ärger in mir aufstieg. Ich blickte über die Wiese und sah den Jeep, bei dem der Zündschlüssel steckte und im Mondlicht leicht glänzte. Ohne nachzudenken, ging ich in Richtung Wagen und rannte am Ende fast darauf zu.
»Hey«, rief Lucien mir zu. »Amy?«
»Jemand hat gerade zu mir gesagt, dass man sich nicht von etwas abhalten lassen darf, nur weil man Angst hat.« Ich lief zur Fahrertür und stieg ein.
»Stimmt«, antwortete er. »Aber ...«
Ich beachtete ihn gar nicht und umfasste das Lenkrad. »Okay«, murmelte ich vor mich hin. Es war das erste Mal seit dem Unfall, dass ich auf dem Fahrersitz saß. Ich erinnerte mich noch genau, wie ich mich an jenem Morgen gefühlt hatte, als ich den Schlüssel nahm und mich, ohne weiter zu überlegen, ans Steuer setzte. Ich griff nach dem Schlüssel, startete den Wagen jedoch noch nicht. Ich schloss die Augen, holte tief Luft und kämpfte gegen die Angst an, die in mir aufzusteigen drohte – die Angst, die mir einreden wollte, dass ich nichts am Steuer zu suchen hatte und Schreckliches geschehen würde, wenn ich es dennoch tat. Ich öffnete die Augen wieder und sah mich um.
Ich war nicht zu Hause, wo auch immer das sein mochte. Ich war auf jeden Fall nicht in Kalifornien und auch nicht an der Kreuzung bei der Uni. Ich war – so absurd es schien – auf
einer Wiese in Kentucky, in einer milden, sternenklaren Nacht. Es waren keine anderen Fahrzeuge in der Nähe, die rote Ampeln überfahren könnten. Alles war gut. Ich drehte den Zündschlüssel um.
Noch ehe ich einen Rückzieher machen konnte, löste ich die Handbremse und gab schließlich Gas. Der Jeep machte einen Satz nach vorn, woraufhin ich heftig auf die Bremse trat und in den Sitz gedrückt wurde. Der Wagen schien so
Weitere Kostenlose Bücher