Amy on the summer road
Fahrertür anlehnen und mir direkt ins Gesicht schauen konnte. Dann war ihm Maurice wahrscheinlich im Weg und er legte ihn auf den Rücksitz. »Da ist nichts«, antwortete ich und blickte zur oberen Etage. »Roger ist in deine Schwester verliebt.«
Er schüttelte den Kopf. »Da wär ich mir nicht so sicher.«
Ich wollte ihm gerade widersprechen, als mir einfiel, dass Roger nur ein paar Stunden zuvor im Auto ungefähr das Gleiche gesagt hatte. »Hm ... ich denke schon, dass er noch ziemlich an ihr hängt. Ich meine, deswegen sind wir ja schließlich hier.«
»Also läuft da nichts zwischen euch beiden?«, erkundigte sich Lucien noch einmal.
Ich blinzelte ihn an. Zuerst fand ich es ja unerhört, wie er so etwas auch nur denken konnte. Aber ... Ich fuhr mir durch die Haare und versuchte, nicht so sehr daran zu ziehen. Es ging hier um Roger . Und obwohl mir bei unserer ersten Begegnung natürlich aufgefallen war, wie süß er aussah, stand das für mich eigentlich nicht mehr so im Vordergrund. Dann schossen mir ganz unvermittelt Bilder durch den Kopf. Roger, wie er aufs Lenkrad trommelt. Roger, der neben mir im Bett liegt und schläft, wobei ihm die Decke von der Schulter gerutscht ist. Wie er mich während einer verregneten Nachtfahrt durch Kansas aufmerksam beobachtet und mich
auffordert, mit ihm zu reden. Wie er mir die letzte Pommes anbietet.
»Amy?«, hakte Lucien noch einmal nach.
»Nein«, entgegnete ich hastig. »Nein, da läuft nichts. Nein.«
»Das waren aber ziemlich viele Neins«, befand Lucien.
»Ja«, bestätigte ich, weil ich das natürlich auch gemerkt hatte. Ich lehnte mich zurück und war durch das Gespräch einigermaßen verunsichert.
»Ich war mir nur nicht sicher«, sagte er. »Wie die Lage bei euch ist, meine ich.«
Ich schüttelte den Kopf. »Da läuft nichts.« Ich überlegte kurz, nachdem ich das gesagt hatte. Stimmte das denn? »Ich meine, es ist nichts gelaufen«, korrigierte ich mich und konnte jetzt sicher sein, dass wenigstens diese Aussage stimmte. »Ich meine, wir sind doch wegen Hadley hier. Weil Roger immer noch etwas für sie empfindet.«
»Ich weiß nicht so recht, wie das funktionieren wird. Hadley wird sich wahrscheinlich sofort verdrücken, sobald sie ihn sieht. Das macht sie immer so. Bei mir ist das anders. Ich bleibe lieber.«
»Du arbeitest ja auch mit Pflanzen«, warf ich ein. »Das hat was mit Wurzelnschlagen zu tun. Leute, die lieber wegrennen, machen so was eher nicht.«
»Nein«, antwortete Lucien lächelnd. »Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht hab ich mir das ja auch nur angewöhnt, weil irgendjemand schließlich hierbleiben musste. Und Hadley ist ihr ganzes Leben immer nur weggelaufen. Vor allem Möglichen – Dingen, Leuten, Gefühlen. Auch vor ihrer Familie.
Ich kenne sie nur so. Was denkst du denn, warum sie reitet? Schon seit sie klein war, wollte sie ständig abhauen. Ich glaube, sie hat nicht begriffen, dass man irgendwann mal damit aufhören muss.«
Was Lucien sagte, erinnerte mich an jemanden, und kurz blitzte in mir ein Bild von Charlie auf, wie er Nacht für Nacht über die Verandabrüstung kletterte und verschwand. »Ich glaube, mein Bruder macht das genauso«, sagte ich langsam. »Ich weiß nicht so genau, ob er vor irgendwas wegläuft. Auf jeden Fall zieht er sich gern an Orte zurück, wo ihn keiner findet.«
»Echt?«, fragte Lucien.
»Ja«, antwortete ich und spürte auf einmal, wie sehr mir mein Bruder fehlte. Lange Zeit hatte ich nicht über ihn gesprochen. Aber plötzlich hatte ich das Bedürfnis dazu. Ohne zu wissen, warum, ahnte ich, dass Lucien es verstehen würde. »Er ist zu einer Entziehungskur«, sprach ich es zum ersten Mal aus.
Er sah mich lange an, lachte kurz auf und schaute dann gen Himmel. »Meine Mutter auch«, sagte er. Er schüttelte den Kopf. »Sie macht das fast jeden Sommer, um mal wieder trocken zu werden. Mein Vater und sie erzählen dann überall herum, dass sie verreisen, um irgendwo Golf zu spielen. Bis vor ein paar Jahren hab ich ihnen das auch noch abgekauft, bis Had mich aufgeklärt hat.«
»Das tut mir leid«, erwiderte ich und hoffte sehr, dass es so aufrichtig klang, wie ich es meinte.
»Mir auch«, antwortete er und sah mich lächelnd an. »Meine Güte, wir könnten glatt einem dieser Heile-Welt-Gemälde von Norman Rockwell entsprungen sein.«
»Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich«, merkte ich an und zitierte damit ein Buch, über das sich Charlie und meine Mutter irgendwann mal
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