An den Rändern der Zeit (German Edition)
an Luna-Essenz bei sich trug, und griff dann nach den beiden zerlesenen Büchern über der Spüle. In der Bewegung hielt sie inne.
Ah, sie wünschte, dass sie und Cathy zusammen die Kraft besessen hätten, Eric einen Selbstmordbefehl zu schicken! Heißt das, ich bin nicht besser als er? Sie fühlte, wie ihre ureigene Kälte sich als wohltuender Schutz und Schild um sie legte.
„Angria und Gondal“ sowie „Sturmhöhe“. Sie hielt beide Bücher schon in der Hand … und ließ sie dann doch zurück.
Irgendwann einmal hatte Cathy sie gefragt, weshalb sie sich denn „Currer“ nannte und nicht „Ellis“. Wieso nicht Emily Brontё anstatt Charlotte. Denn Ellis war das Pseudonym der wilden Brontё-Schwester gewesen. „Zu nah dran“, hatte B.C. Cathy darauf geantwortet.
Über die Bücher der Brontёs hatten Cathy und B.C. überhaupt erst näher zueinander gefunden. Darum auch liebte Casimiria ihren Spitznamen, der wiederum auf die Heldin in Emily Brontёs einzigem Roman „Wuthering Heights“ anspielte.
Cathy darf nichts passieren, dachte B.C. möglichst kühl. Eric soll sich auf mich konzentrieren, ich bin es, die er will.
Doch er hatte jetzt auch Casimiria im Visier, sie wusste es. Vielleicht konnte sie den Rotzjungen Varian rechtzeitig zu einer Rettungsaktion bewegen.
Wenn er auch sonst zu nicht viel taugt – darin scheint er Spezialist zu sein. Er hat sie aus dem Bizarren Zirkus befreit, nicht ich.
B.C. lächelte grimmig und verließ den Eisenbahnwaggon.
Bei einem kränklich roten Kleegewächs, das blutig wucherte, blieb sie stehen. Auf dieser Reise lag der Weg ihr im Ohr, das um ein Mehrfaches feiner war als selbst Casimirias, und da es hier totenstill war, hörte sie ihn bald.
Den Zug.
*
Die leicht nach außen gewölbten Innenwände des Tunnelraums glitzerten von Eis. Varian zog die Schnüre seiner Russenmütze fester, so dass seine Ohren gut bedeckt wurden – die beiden perlengroßen Spezialverstärker hatte er aus seinen Ohrmuscheln wieder entfernt; ohne sie konnte er den Zug nicht hören – und streifte seine pelzgefütterten Handschuhe über.
Wie immer war überhaupt keine Bewegung zu spüren. Der Zug schien stillzustehen, und in den Waggonzwischenräumen war die Luft so kalt, dass sie brannte. Schnell schlüpfte Varian in den Waggon der Ersten Klasse. Er mochte die Eisblumen auf den Sitzpolstern dort. Froststarre Vorhänge versperrten den Blick in das Abteil, das direkt als erstes zu seiner Rechten lag, und die Tür schien hermetisch verschlossen zu sein. Auch das kannte der erfahrene Reisende, und er zerrte so lange am Griff, bis die Eiszapfen, die sich zwischen Tür und Rahmen gebildet hatten, knirschend zerbarsten.
Es empfahl sich übrigens nicht, die Eis-Phänomene hier in irgendeiner Weise zu berühren.
„Ach nee“, wunderte er sich, in der Tür stehend. „Du, Alien?“
„Mach die Tür zu, Rotzjunge“, erwiderte B.C. Ihre aufgesprungenen Lippen bewegten sich kaum. „Es zieht.“
„Bisschen frische Luft schadet doch nicht, oder?“, gab er frech zurück, erfüllte ihr dann aber doch gnädig ihren Wunsch. Grinsend ließ er sich in einen Mittelsitz fallen, ihr schräg gegenüber.
Lange her mein letzter Trip, dachte B.C. Nebenwirkungen: Du hörst NOCH mehr als sonst. Sie konnte alle möglichen Stimmen wahrnehmen, auch die von Passagieren aus einem ganz gewöhnlichen Zug im Zentrum der Augenwelt, nur durch eine hauchdünne Quantenmembran von dieser Dimension getrennt. Schwierig, Gedanken zusammenzuhalten. Der Wind macht mich verrückt. Gedanken kugeln wie Murmeln aus Eis.
Wie immer trug das Alien seine Sonnenbrille. Sonst nichts als Schutz außer diesem lilaroten Schal, den er mittlerweile auch kannte. Sie waren sich fünf- oder sechsmal begegnet im Zug, und jedesmal hatte sie den Schal umgehabt. Und die Sonnenbrille auf ihrer gekrümmten Nase. Das heißt: Einmal, ein einziges Mal hatte sie sie abgenommen, und deshalb wusste er auch, dass sie ein Alien war. Varian erinnerte sich nicht gerne an diesen Moment.
Ihr Gesicht war gezeichnet von der Zeitkälte, aber sie schien es nicht zu spüren.
„Du siehst nicht gut aus, Alien.“
Ich verfluche seine Kälteresistenz! Ein normaler Mensch wie er sollte überhaupt nicht in der Lage sein, mit dem Zug zu fahren!
Laut aber sagte B.C. nur: „Rotzjunge.“ Sie hatte die vage Ahnung, ihm noch mehr sagen zu müssen – es ging um Cathy – aber es fiel ihr nicht ein. Diese alles vernichtende Zeitkälte, die sich tief in sie
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