An den Rändern der Zeit, Teil 2 (German Edition)
zu anderen Müttern, die welche hatten. So kann unsere Horde überhaupt nur die Kinder ernähren, weißt du? Wir werden jahrelang gesäugt. Oh, und es gibt nicht so große äußerliche Unterschiede zwischen Mann und Frau, wir alle sind verfilzt-haarig und verwahrlost, und die Kinder halten fest zusammen, sind – Hordengeschwister. Die Kleinen müssen sich zusammentun, um groß genug zu sein, stark genug für ein Ergattern der Nahrung. Denn wenn wir nicht mehr gesäugt werden, kümmern sich die Erwachsenen nicht mehr viel um uns. Wir sind wie Tiere, würdet ihr sagen. Sprechende, fühlende Tiere. Wir lachen und weinen auch – ah, aber das führt zu weit, jetzt. – Wenn du hier niemanden kennst, der deinen Comp heilmachen kann, dann müssen wir hinabsteigen. Dieser Junge wird wissen, wo wir Hilfe finden können. Das Big Black C wird uns helfen.“
„Aber ich habe noch nie … ich bin nicht … ich kann nicht“, versuchte Oi zu protestieren.
Bonea knurrte unwillig und voller Ungeduld, und später erkannte er, dass sie ihn in diesem Augenblick einfach hätte verlassen können. Aber das tat sie nicht. „Lass es uns versuchen! Meine Augen sind scharf.“ Das war alles, was sie sagte, und er wehrte sich nicht weiter.
Kurz darauf kletterten sie bereits die Eisenleiter in die schlammige Unterwelt hinab. Sie hatten noch nicht einmal die Hälfte der Strecke bis zum Grund zurückgelegt – nach Ois blinder Schätzung – als sie ein unheimliches, hohl widerhallendes Schnaufen hörten, vermischt mit halberstickten Jammerlauten.
Bonea verlor keine Zeit mit Reden, sondern kletterte noch schneller; Oi hatte Mühe, ihr zu folgen. Und endlich hatten sie den triefnassen Grund der Kanalisation erreicht – Bonea eilte voraus, und Oi tappte vorsichtig hinter ihr her, dem anhaltenden Schniefgeräusch folgend. Er hörte außerdem das Gluckern und Gurgeln des Abwassers aus der Rinne, an der ein begehbarer Sims entlanglief. Es stank.
„Er ist verletzt!“, rief Bonea ihm über die Schulter zu. – Mit der linken Hand ertastete Oi ein dickes Rohr, an dem er sich entlanghangelte, bis er die Nische erreichte, in der seine kleine Freundin den Dieb „gestellt“ hatte.
„Ich glaube, er hat ein Problem mit seinem Gehör“, sagte Bonea nun; sie schien den Jungen gerade zu untersuchen. Oi hörte das Zerreißen von Stoff und ein leises Wimmern.
„Nur ruhig, Junge … kannst du von den Lippen lesen? Ich tu dir nichts. Ich will dir helfen. – Er muss gestürzt sein, Two Vocals. In all der Eile, während er hinabhastete, kein Wunder. Hat sich das Bein verletzt. Ist schlimmer als meine Armwunde, aber nicht allzu schlimm. Reiß was aus deinem Hemd, einen Streifen, please, Two Vocals.“
Er tat es und sagte dann benommen: „Ein Problem mit dem Gehör? Das KANN nicht sein.“
„Warum nicht?“, fragte Bonea scharf. „Bei uns gibt es das andauernd. Geschwüre in den Ohren, alles Mögliche …“
„Aber nicht bei uns.“ Der blinde Hüne setzte sich schwer hin. „Jetzt verstehe ich.“
„Was?“
„Warum der Junge … natürlich wurde er verstoßen. Deshalb.“ Oi versuchte krampfhaft, schneller zu denken; quälend langsam nur formten sich die Worte, noch länger dauerte es, bis sie hinauskamen.
„Er ist bloß taub … ist das etwa ein Verbrechen?“
„In meinen Augen nicht …“ In meinen AUGEN, dachte er. „Aber die Seuche, weißt du. Die Seuche des Inneren Lärms. Davor fürchten sich alle. Wer heute noch taub ist, gilt als … irgendwie aussätzig. Die Leute fürchten sich vor denen, die selbst jetzt nichts hören …“
Eine Weile herrschte Stille, nur das tropfende Wasser war zu hören. In der Kanalisation gab es jede Menge Feuchtigkeit. Oi fühlte eine unangenehme klaustrophobische Bedrängung in sich aufsteigen, doch er unterdrückte sie. – Stärker war das Gefühl, einer wichtigen Erkenntnis auf der Spur zu sein. Nicht alles war gut in der jetzigen Augenwelt, das ahnte er nicht erst seit seiner Erblindung und seinem Rausschmiss aus einem guten Job. Und die Furcht vor den Gehörlosen war ganz tief eingebrannt. Selbst er spürte das, obwohl er anders dachte; er hatte eine Scheu davor, sich dem Jungen zu nähern. Er prallte förmlich vor ihm zurück.
„Das ist cruel … grausam“, sagte Bonea endlich ernst. Dann wandte sie sich dem Jungen zu und fragte, deutlich artikuliert: „Wie heißt du?“
Er stieß einen ungestalten Laut hervor.
„Hmmm?“, brummte Bonea ratlos. Und dann hörte Oi sie freudig ausrufen:
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