An den Rändern der Zeit, Teil 2 (German Edition)
„Hey, er kann writen – schreiben! Das ist prima … Sein Name ist Faruk“, sagte sie ein oder zwei Augenblicke später. „Und er kann von den Lippen lesen. Du lieber Himmel, ich bin hier in God City mit einem Tauben und einem Blinden. Wenn das kein Omen ist …“
„Du glaubst an Omen?“, fragte Oi.
„Meine Horde ist total mega-abergläubisch. Habe das Gefühl, wir Drei gehören zusammen.“
Oi hörte das kratzende Geräusch eines Stiftes auf Papier, und kurz darauf sagte Bonea: „Oh, er ist blind, weil sein Augen-Comp kaputt ist.“
Wieder ein kritzelndes Geräusch.
„Ach ja? Na gut, versuch es, Faruk. – Er sagt, er könne ihn heilmachen, Two Vocals.“
Wenig später fühlte Oi fremde kleine Finger, die sich an seinem Halsband zu schaffen machten. Geschickt und eifrig. Und dann geschah das Wunder unter der Erde, wie er es bei sich nannte: Er konnte wieder sehen!
Das war natürlich der Moment, an dem er seine – wenn auch nur gering vorhandenen – Vorbehalte gegen nicht-hörende Augenweltler völlig beiseiteschob: Der kleine, taube Faruk hatte seine Sehprothese repariert!
Bonea klatschte in die Hände. Zwar konnte Oi hier unten nicht viel mehr sehen als das wenige, was die grünliche Notbeleuchtung eben zeigte – aber er fühlte sich absolut wie ein neuer Mensch. Wie neugeboren. Er strahlte und schloss den Jungen spontan in seine voluminösen Arme.
Faruk grinste ihn an – Oi konnte sehen, dass das Gesicht dieses rotznasigen Bengels extrem schmutzig war …
„Danke, Faruk, vielen, vielen Dank!“
Wieder das Gekritzel, diesmal sah er, worauf der Junge schrieb: mit Kohlestift auf einem sehr dreckigen Stück Pappe. – Nun bemerkte Oi auch, dass Boneas Beschreibung flink wie eine Ratte und sieht auch so aus keineswegs nur ein Vergleich gewesen war: Der etwa elfjährige Junge war in ein höchst merkwürdiges Gewand aus zusammengenähten Rattenfellen gekleidet.
Oi las das Geschriebene laut: „Nur 1 Probl. m. d. Laser. Darin bin ich gut.“
„Gut? Er ist ein Sorcerer – ein absoluter, verdammter Zauberer!“ rief Bonea entzückt aus.
Der Zauberer war für sein geschätztes Alter ziemlich klein, und das Wort Sauberkeit schien ihm völlig fremd zu sein. Selbst Bonea blickte besorgt drein, als er sein vor Schmutz starrendes, knielanges Rattengewand über die von ihr notdürftig verarztete Schürfwunde fallen lassen wollte. – Dann zuckte sie die Schultern.
Einerlei. Dieser kleine, schmutzige Junge hatte ihm sein Augenlicht wiedergegeben. Oi reichte ihm seine klobige Rechte. „Danke“, sagte er noch einmal, während der Knabe, seine Hand wie im Traum ergreifend, ihm gespannt auf die Lippen sah.
Dann stieß Faruk ein krächzendes, keckerndes Geräusch hervor, das wohl seine Art des Lachens war.
Bonea grinste ebenfalls. Sie schlang einen Arm um den Jungen, und er schmiegte sich an sie. Aus seiner kleinen, stumpfen Nase lief der Rotz. Bonea fand einen weiteren Lumpenfetzen in ihrer Kleidung und wischte dem Knaben damit die Nase, ganz mechanisch. „Er erinnert mich an einen meiner jüngeren Hordenbrüder“, sagte sie weich. „Der ganz bitterlich weinte, als ich auserwählt wurde und das Outland verließ.“ Bei diesem Satz klang ihre Stimme hell und hart.
Oi stellte fest, dass Bonea, die er nun zum ersten Mal richtig erblickte, genau so aussah, wie er sie sich vorgestellt und ertastet hatte. – Nun schaute sie ihn ernst an und zog den kleinen, diebischen Knaben auf ihren Schoß … verspätet begriff der Hüne, dass sie sich wohl fühlte in der Gegenwart Faruks, weil er beinahe wie ein Hordenkind im Outland war.
„Two Vocals“, sagte Bonea, und das Tunnelsystem der Unterwelt warf ihre Worte als verzerrte Echos umher – „erzähl mir alles, was du weißt. Was ist faul hier? Was geschah vor einem Jahr mit der Augenwelt?“
Abschnitt E
Der Anblick traf Varian wie ein Schlag, und um ein Haar hätte er sich an seinem Drink verschluckt. Ungläubig starrte er auf das weibliche Wesen, das soeben durch die Eingangsluke der Kneipe gekommen war.
Als die scheußlich grünen Plastikteppiche, die das Loch verdeckten, hinter der Frau wieder herabgefallen waren, registrierte Varian, dass nicht nur er verblüfft war. Im gesamten „Senkblei“ breitete sich eine ungewöhnliche Stille aus, und alle starrten die Dame an.
Sie trug ein silbergraues Kostüm, das blonde Haar war perfekt frisiert und sie passte definitiv überhaupt nicht hierher. Das „Senkblei“ sah nur wenige weibliche Gäste,
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