An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
einem langen Schritt und der hilfreichen Hand des Leutnants wieder im Freien.
Es war hell geworden. Wasser lief in breiten Rinnsalen die Gasse hinunter. Die Uniformen der Männer waren durchnässt. Es musste heftig geregnet haben. Davon hatte sie nichts wahrgenommen, obwohl der Regen auf dem Wagendach nicht leise gewesen sein konnte.
«Wie lange war ich drinnen?» Sie vermochte es nicht einzuschätzen. Eine Stunde oder nur ein paar Augenblicke?
«Zwanzig Minuten, Señora.»
«Danke, Leutnant. Bitte sagen Sie mir, was mit ihm geschieht.»
«Das Urteil lautet Silbermine.»
Was das hieß, konnte sie sich denken: unter unerträglichen Bedingungen schuften bis zum Tod. Wann immer das beginnen und wie lange es dauern würde. Sie ließ sich zu ihrer Kutsche geleiten, stieg hinein und sank in den Sitz. Die Begegnung hatte sie aller Kräfte beraubt. So vieles war ungefragt geblieben. Warum bist du zum Mörder geworden? Wen hast du getötet? Wer bist du? Stattdessen hatte sie Zeit mit Unwichtigem vertändelt. Könnte sie die Uhr doch nur um diese zwanzig Minuten zurückdrehen! Aber dann würde sie nur noch an ihn geschmiegt sitzen und schweigen. Sie würde den Gouverneur fragen. Nein. Es war an Arturo, es ihr zu sagen. Und sollte das Schicksal es so schlecht mit ihnen meinen, dass er ihr dieses Geheimnis nicht mehr würde verraten können – nun, dann sollte es so sein.
5. Kapitel
Reinmar hatte das Gefühl, mit einer Messerklinge im Schädel aufzuwachen. Er fuhr sich durch die Haare und wälzte sich im Bett herum, doch das sorgte nur dafür, dass zu den Kopfschmerzen Übelkeit kam. Er vertrug einiges; also hatte er zu viel oder zu schlechten Fusel getrunken. Durch die Lamellen der Balkontür drangen grelles Tageslicht und das Geschrei irgendwelcher Leute. Unten schlug eine Faust gegen die Haustür, und eine Frau jammerte herzzerreißend – wieder einmal jemand, der Raúls Hilfe benötigte. Aber der war wie jeden Tag im Morgengrauen losgezogen, um als freiwilliger Feldarzt zu dienen.
Abends kehrte er dann in der Dunkelheit zurück und versuchte, dem Patientenansturm Herr zu werden. Es gab noch einen anderen Arzt in der Stadt, einen Deutschen, der sich ebenfalls die Seele aus dem Leib schuftete. Es reichte nicht; das Volk pilgerte in die Kathedrale, die nicht, wie damals die Kirchen in Hamburg, zu einem Stall oder Lazarett umfunktioniert worden war. Oder gleich zu den Wunderheilern. Reinmar hatte schon einiges gehört von grässlichen Kulten, in denen eine auf einem Tapir reitende Frau angebetet wurde und die Leute auf glühenden Kohlen tanzten. All dieses dumme Zeug entsprang nur dem Wunsch, Einfluss auf etwas zu nehmen, das sich außer Reichweite der eigenen geringen Macht befand. Da hielt er sich doch besser an Old Tom. Er griff nach der Ginflasche auf dem Nachttisch und trank bis zur Neige. Gott, was gäbe er für ein kühles Glas Bier!
Aber es war sein knurrender Magen, der ihn aus dem Bett zwang. Er urinierte in den Nachttopf, putzte sich die Zähne mit Zahnsalz und schlüpfte in seine Pantalons. Dann stieg er die schmale Treppe hinunter.
Das Haus war klein, verwinkelt und verbaut. Raúl hatte das Nachbarhaus anmieten wollen, um einen Durchbruch zu schaffen und Krankenbetten aufstellen zu können. Der alte Jesús, dem der Lederwarenhandel nebenan gehört hatte, war längst der Ruhr erlegen. Raúl hatte darauf spekuliert, das Haus nach dem Ableben des Alten übernehmen zu können. Doch die Armee hatte das Gebäude konfisziert. Derzeit wurde es nur genutzt, um Schutt abzuladen. In anderen Häusern sah das anders aus: Die spanischen Streitkräfte hatten sich wie ein klebriges Spinnennetz überall festgesetzt. Reinmar war froh, die Einladung des Gouverneurs, ein mietfreies Logis zu beziehen, ausgeschlagen und stattdessen die Raúls angenommen zu haben. Womöglich läge er jetzt gemeinsam mit drei Soldaten im selben Bett … Gähnend begab er sich in die Küche und hob den Tontopf, in dem Raúl die verderblichen Nahrungsmittel aufbewahrte. Er brach sich ein Stück Maisbrot ab und begab sich in den Keller, wo sich der Arzt den Luxus eines Eisschranks leistete. Das Eis entstammte den Lieferungen für den Gouverneurshaushalt – die letzte lag allerdings einige Monate zurück. Verhältnismäßig kühl war es hier dennoch. Reinmar fand gammeliges Gemüse und ein paar Eier; die Naturalien stammten von Patienten, die es sich noch leisten konnten, überhaupt etwas zu bezahlen. Er nahm eine Avocado und kehrte in die
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