An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
folgen. Ein Mädchen, eines der Uriarte-Kinder, kam mit geröteten Augen an der Hand einer Zofe aus einem der Zimmer. Reinmar stieß es an, als er an ihm vorbeirannte.
«Janna!»
Sie hob den Kopf. Sie saß an der Seite eines Bettes, in dem die junge Verónica lag. Das Mädchen war unter seinem südamerikanischen Teint bleich wie der Tod.
«Mein Gott, Janna! Ich dachte …»
Er schwieg, als sie den Finger an die Lippen legte. Irgendjemandem wollte er den Hals umdrehen. Gleichzeitig waren ihm die Knie vor Erleichterung weich.
«Warum bist du hier?», fragte sie so leise wie vorwurfsvoll.
«David sagte mir, du seist krank!»
«Verónica ist krank.» Sie bettete die Hand der jungen Dame auf der Zudecke, erhob sich und beugte sich über sie, um ihr beruhigende Worte zuzuflüstern. Es stand schlimm um das Mädchen, denn der verliebte Blick, den es ihm sonst immer verlegen zugeworfen hatte, blieb aus. Endlich löste sich Janna von der Kranken und kam auf ihn zu.
«Janna, du solltest nicht so nah an sie herangehen …»
Sie winkte nur ab, fasste ihn beinahe grob am Ellbogen, damit er ihr auf den Korridor folgte. Mit raumgreifenden Schritten marschierte sie voran und öffnete eine der anderen Türen. Verwirrt über dieses Gebaren, betrat er ein Zimmer, das offenbar ihres war. Es war ein typisches Damenzimmer, mit einem zierlichen Schreibtisch auf der einen und einem Bett auf der anderen Seite, dahinter ein Paravent, und wesentlich komfortabler als das, was Raúl ihm bieten konnte. Unter dem Dach hatte sie gewohnt, so hatte sie erzählt. Bis die Marquesa sie hierher umquartiert hatte, damit sie nicht ständig das Kriegsgeschehen beobachten konnte. Neben der Balkontür, die zum Innenhof hinausführte, stand ihre Staffelei. Das Bild darauf war umgedreht.
«Es tut mir leid, dass du dich erschreckt hast», begann sie. Ihre Finger krampften sich in den Stoff ihres Kleides. Fahrig lief sie zwischen Bett und Schreibtisch auf und ab. «David hat das missverstanden, aber du siehst ja, welches Durcheinander hier herrscht. Ich wusste nicht von deinem Kommen; andernfalls hätte ich dich im Patio empfangen.»
«Du hättest mich gar nicht empfangen», entfuhr es ihm. «Du gehst mir aus dem Weg. Sag mir, was mit dir nicht stimmt.»
«Mit mir stimmt alles!» Ihr Blick, ihre ganze Haltung sprühten vor Ärger, aber seinem Eindruck nach nicht auf ihn. Ihr Marsch durch das Zimmer ließ an eine Gefangene im Verlies denken. «Es ist diese ganze … das alles … der Krieg. So viele Verwundete dort draußen! Menschen, die hungern. Hast du eine Vorstellung davon, wie es im hiesigen Gefängnis aussieht? Es muss schrecklich sein. Und ich sitze hier und kann nichts tun.»
«So geht es uns allen.»
«Ich bin feige. Andere Frauen gehen hinaus und helfen.»
«Du willst in eines der Lazarette? Daran solltest du nicht einmal denken.»
Sie winkte ab. «Ich sagte doch, ich bin zu feige. Zu verwöhnt. Anscheinend genügt ein halbes Jahr in der Wildnis nicht, ein verhätscheltes Leben zu vergessen.» Ihr Lachen war höhnisch.
«Janna, Liebste, Bolívar wird bald siegen. Du musst durchhalten, bitte.»
Sie presste eine Hand vor den Mund und heulte gequält auf. Eine Träne löste sich. Ihm schoss durch den Kopf, dass er nach Nachtschweiß und wohl auch Alkohol roch und deshalb seinem Bedürfnis, auf sie zuzustürmen und sie in die Arme zu schließen, nicht nachgeben konnte. Irgendetwas in ihrem Verhalten sagte ihm, dass sie ihn ohnehin wieder zurückstoßen würde. «Was will er überhaupt hier?», rief sie empört. «Angostura ist ja so ruhig! Ich habe es noch im Ohr, ja ja. Angostura interessiert niemanden! Ha!»
Ja, da hat der gute Baron wohl Unsinn geredet , lag ihm auf der Zunge. Aber für Spott war jetzt nicht der rechte Moment.
«Es ist mir unangenehm, dich um Geld zu bitten», sagte sie. «Aber hättest du ein paar Piaster für mich?»
Er tastete nach der gutgefüllten Geldkatze in der Innentasche seines Gehrocks.
«Nein», plötzlich schüttelte sie den Kopf. «Nein, das kann ich nicht von dir verlangen.»
Natürlich konnte sie – sie war seine Braut; er war für sie verantwortlich, auch wenn sie im Haus des Gouverneurs lebte. Bisher hatte sie auch nicht gezögert, sein Geld anzunehmen. Er fingerte zehn Münzen heraus und legte sie auf den mit Zeichnungen übersäten Schreibtisch. Es waren die üblichen Motive: der Wald, der Fluss, Blumen, Tiere, das Boot mit dem schattenhaften Fremden.
«Nein, Reinmar, bitte steck es wieder
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