An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
luftige französische Empirestil an Bonapartes Herrschaft erinnerte? Frauen mussten eben überall für die Taten der Männer büßen. Im Krieg und in der Mode.
Der Kakao hatte heute nicht so süß wie sonst geschmeckt. Ob der Zuckervorrat zur Neige ging? Oder die Köchin bunkerte ihn für die bevorstehende Fiesta de Nuestra Señora de las Nieves. Anfang August, wenn der Fluss gestiegen war, feierte die ganze Stadt am Ufer und in den Straßen ein rauschendes Fest, mit Musik, Tänzen, Spielen und Prozessionen. Voriges Jahr hatte Janna draußen auf La Jirara davon nichts mitbekommen – sie war betäubt von der langen Reise und Arturos Verlust gewesen und hatte ihre Tage erschöpft im Bett oder im Patio zugebracht. Wie es schien, würde es dieses Jahr nicht anders sein. Sie konnte sich gar nicht recht vorstellen, wie die Leute feiern wollten. Was eigentlich? Ihr Leiden?
Sie rollte wieder auf den Rücken und rieb sich über die schweißfeuchte Stirn. Dieses Kreiseln um Unwichtiges bewahrte sie nicht davor, sich der grausigen Wahrheit zu stellen, dass sie Arturo hatte sterben sehen. Er ist tot, tot, tot, o mein Gott … Das Entsetzen brandete über sie wie eine Springflut; sie konnte sich nicht länger dagegen wehren. Aufheulend presste sie die Hände vor das Gesicht. Ihr Körper erbebte wie von Hieben getroffen. Hastig zerrte sie eine Decke über sich und schrie hinein. Die Tränen flossen eine Stunde lang, so schien es ihr. Es war schrecklich schmerzhaft, aber tat auch gut, weil all die sinnlosen Gedanken und quälenden Bilder aus ihr herausströmten.
Ermattet schlief sie ein. Nur um das Grübeln wiederaufzunehmen, kaum dass sie erwachte.
Sie konnte sich immer noch nicht erklären, weshalb sie der Erschießung beigewohnt hatte. Sollte das wirklich ein grausamer Zufall gewesen sein?
Zuvor hatte sie den Gottesdienst einige Wochen nicht besucht. Reinmar war noch nie dort gewesen. Und jetzt, ausgerechnet an diesem Tag, sie beide? Und warum waren sie um die Ecke gelaufen und nicht zu der wartenden Kutsche? Reinmar hätte sich gegen den Strom stemmen können, wenn er gewollt hätte. Und sein Blick, war der nicht geradezu begierig gewesen? Aber er hatte sie nicht aufgefordert, sich nach vorne zu drängen.
Er wusste natürlich, dass ich die letzten Schritte von allein zurücklege , überlegte sie.
Es klopfte; Lucila schlüpfte herein. «Doña Janna», sagte sie hastig und machte einen ungelenken Knicks. «Draußen wartet Don Reinmar.»
Janna setzte sich so schnell auf, dass ihr schwindelte. «Lass ihn um Gottes willen nicht herein, ich sehe völlig indiskutabel aus.» In diesem Haus ging ja wirklich alles drunter und drüber, wenn man neuerdings ständig befürchten musste, dass ein Gast plötzlich auf der Schwelle der Schlafgemächer stand. «Sag ihm, er soll im Patio warten.»
Lucila huschte hinaus, und Janna stemmte sich aus dem Bett hoch. Alle Glieder fühlten sich an wie aus Blei. Allein der Gedanke, sich die Treppe hinunterzuquälen, wollte sie zurück aufs Bett zwingen. Sie straffte sich mit aller verbliebenen Kraft, schlüpfte in den Morgenmantel und strich sich über die Haare. Dann öffnete sie die doppelflügelige Lamellentür, die zum Balkon hinausführte. Unten wartete Reinmar bereits. Elegant wie immer, heute sogar mit einem blauen Paris-Beau-Hut und einem Spazierstock, dessen Messingknauf wie Gold glänzte, marschierte er im Schatten des Tamarindenbaums auf und ab. Eines der Kapuzineräffchen hoppelte auf ihn zu und bettelte um eine Leckerei; er schob es mit dem Stock beiseite. Janna beobachtete ihn eine Weile. Seine Kleidung war tadellos und eines Gentlemans würdig, das konnte auch der Krieg nicht verhindern. Sie suchte in sich den freudigen Stolz auf ihn. Die leichte Erregung. Die Wonne, in seinem Anblick zu schwelgen. So wie früher. Doch diese Gefühle waren seit ihrer Rückkehr erkaltet und nun, stellte sie sachlich fest, mit Arturos Tod gänzlich erloschen. Es war ihr völlig gleichgültig, wie Reinmar aussah und wie er daherkam. Wie hatte mir das je so wichtig sein können?
Sie legte die Hände auf das weiß lackierte Geländer der Galerie. «Reinmar, ich bin hier oben.»
Abrupt blieb er stehen, schob den Hut in den Nacken und sah auf. «Janna! Magst du nicht herunterkommen?»
Sie schluckte. Ihr lag auf der Zunge, dass ihr nicht wohl sei. Dass sie müde sei. Dass sie … zum Teufel. «Du warst im Gefängnis und hast erfahren, dass er füsiliert wird, nicht wahr? Du hast mich mit Absicht
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