An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
…
«Schön ist das aber nicht.»
Janna legte den Pinsel in den Kasten. Ihr Kleid hatte ein paar Spritzer abbekommen, und auf den Fingerspitzen klebten getrocknete Pigmente. Die Wirklichkeit war so schwer zu atmen wie die Luft nach einem Tropenregen. Tief atmete sie ein und aus und ein. Sie konnte atmen. Sie konnte leben. Es erstaunte sie immer wieder, dass sie noch die Kraft dazu besaß.
Auf dem Stuhl drehte sie sich zu Lucila um. Das Mädchen hielt ein Tablett mit Kakao bereit. Janna ergriff die bereitgestellte Flasche Laudanum und träufelte sich etwas davon in die Tasse. Nicht zu viel, um den süßen Geschmack und den Verstand nicht zu beeinträchtigen. Aber auch nicht zu wenig – sie mochte es, müde zu sein. Im Bett und im Schlaf war alles erträglicher.
«Nein, schön ist das wirklich nicht. Deshalb kannst du alles, was ich nach dem Malen auf den Boden lege, im Küchenherd verbrennen.»
Lucila stellte das Tablett auf den Schreibtisch und bückte sich nach den verworfenen Bildern. Janna war es unangenehm, dass sich jemand diese Sachen ansah, aber protestieren wollte sie auch nicht. Lucilas Finger wanderte über das schattenhafte Abbild Arturos. Welche Gedanken sich ein Betrachter zu ihm wohl machte? Man mochte annehmen, dass sie es nicht gewagt hatte, ihn deutlich zu malen, weil sie es nicht ertrug oder ihn niemand erkennen sollte. Der wahre Grund war banal: Seine Gestalt wollte ihr nicht zufriedenstellend gelingen. Unbekleidete Männerkörper waren so unglaublich schwer zu malen. Erst recht nur aus der Erinnerung.
Das Blutmuster an der Kirchenwand sah sie jedoch in jeder Einzelheit vor sich. Mühelos könnte sie es aufs genaueste wiedergeben.
Ihr Inneres fühlte sich an wie mit einem exakt zurechtgehauenen Stein ausgefüllt, der bis dicht unter ihre Haut reichte. Das Laudanum vermochte die Härte ein wenig zu lösen, und das Malen half ihr, nicht verrückt zu werden. Zwei Tage lag Arturos Tod zurück. Janna wusste, dass es geschehen war. Dennoch fühlte sich alles noch unwahr an. Sie konnte es nicht begreifen. Ihr Verstand, ja, der vermochte die Ereignisse zu ordnen: Arturos Urteil war, warum auch immer, vielleicht wegen des Krieges, in ein Todesurteil umgewandelt und sofort vollstreckt worden. Die Verurteilten wurden nach dem Gottesdienst füsiliert, wenn viele Zuschauer da waren, auch das wusste sie. Nur, warum sie ausgerechnet an diesem Sonntag dort gewesen war, das wusste sie nicht.
Ihre Lider wurden angenehm schwer. Sie stemmte sich vom Stuhl hoch und streckte die Hand nach Lucila aus, die sofort die Blätter zurücklegte und aufsprang, um sie zum Bett zu geleiten. «Bitte lockere das Korsett, Lucila.»
Das Mädchen betastete die Schnürung im Rücken. «Es ist schon ganz locker, Doña Janna.»
Janna schlüpfte unter dem Moskitovorhang hindurch und ließ sich der Länge nach auf die weichen Decken sinken. Eine Stunde Schlaf musste genügen. Danach würde sie zu Verónica hinübergehen, die nach wie vor das Bett hütete. Mit dem Mädchen zu plaudern und gemeinsam zu lesen half ebenfalls, sich abzulenken. «Was macht Doña Begoña?», fragte sie mit schwerer Zunge.
Lucila stellte das Tablett griffbereit auf den Nachttisch und ordnete das Netz. «Sie sitzt immer noch den ganzen Tag neben der Bürotür ihres Gatten. Manchmal lässt sie sich eine Zeitung reichen und schimpft in sich hinein; dann denken alle, sie würde ihre Mahnwache aufgeben. Aber dann macht sie doch damit weiter, vor sich hin zu brüten.»
«Und Don Felipe?»
«Einer der Hausdiener meinte, der Gouverneur kommt nachts heraus. Angeblich lässt er seine Frau dann links liegen. Aber ich weiß es nicht, ich schlafe ja.»
«Und Frau Wellhorn?»
«Oh.» Das Mädchen rieb sich verlegen die breite Nase. «Der muss ich ja auch noch Laudanum bringen. Sie liegt oben in der Dachkammer. Ich soll Sie grüßen.»
Grüßen! Janna lachte. Hier war ja wirklich keiner mehr normal. Das macht das Sterben ringsum. Man erträgt es nur, wenn man meint, sich wie gewöhnlich zu benehmen, und in Wahrheit machen wir nur noch Unfug. «Lass mich schlafen, Lucila.»
«Ja, Doña Janna.» Lucila machte einen Knicks, steckte das braune Arzneifläschchen in die Schürzentasche und verschwand.
Janna wälzte sich auf die Seite. Die harten Fischbeinstäbe des Korsetts hinderten sie am Einschlafen. Sie sehnte sich nach ihrem alten bequemen Kurzmieder. Sollte die Mode wirklich so hochgeschlossen und steif werden, wie Frau Wellhorn es gerne sähe? Nur weil der
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