An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
hatte nicht drängen wollen. Denn ein wenig plagte sie das schlechte Gewissen, ihn um Hilfe für einen Mann gebeten zu haben, der gewissermaßen zu seinem Rivalen geworden war. Aber war das nicht unsinnig? Reinmar würde ihn nie als Rivalen ansehen. Für ihn war Arturo fast ein Wilder, und wäre er keiner, so doch ein Strafgefangener. Ein Verbrecher. Die Welten der beiden Männer hatten nichts gemein.
Janna blinzelte gegen die Sonne, als sie endlich im Freien waren. Sie überlegte, ob sie das kurze Stück zum Palais zu Fuß zurücklegen sollte. Ihr Körper sehnte sich nach erschöpfender Bewegung. Nach einem langen Spaziergang am Fluss. Nach einem Ausritt. Alles Träume derzeit. Trotz der Menschenmenge schien ihr die Luft ungewöhnlich frisch. Ein sanfter Wind wehte.
Die Illusion, dieser Tag wäre einer aus Friedenszeiten, zerstob mit einem Salutschuss. Irgendwo erklang das laute Rasseln einer schnell geschlagenen Militärtrommel.
«Was bedeutet das?», rief sie. Reinmar schüttelte nur den Kopf; er schien es nicht zu wissen. Das Getöse kam von der Westseite der Kathedrale. Janna wollte in die andere Richtung – sie ahnte, ohne dass sie den Gedanken zu fassen bekam, was diese Trommel ankündigte. Doch jeder wollte dorthin; wie von einer starken Flussströmung wurde sie mitgezogen. Die weißen federbuschbekrönten Tschakos des Erschießungskommandos überragten die Sonntagshüte. Die Läufe geschulterter Gewehre blitzten. Ein commandante zu Pferd verlas ein Urteil – Janna verstand nichts, denn die Umstehenden redeten erregt miteinander. Der nächste Trommelwirbel brachte Stille. Janna bemerkte, dass sie Reinmars Hand losgelassen hatte. Sie blickte um sich. Dicht hinter ihr war Lucila. Das Mädchen hatte die Augen geschlossen, die Finger in die Ohren gesteckt und bewegte die Lippen; vielleicht betete es zu Maria Lionza, zu der Jungfrau vom Schnee oder sprach mit sich selbst, um nichts wahrzunehmen.
Wie viele andere Männer hatte Reinmar den Strohhut abgenommen. Sein Blick traf flüchtig ihren. Dann wandte er sich wieder nach vorne, als wolle er sagen: Sieh hin .
Aber dieser Aufforderung bedurfte es gar nicht. Janna wollte nun wissen, wer der Delinquent war. Es war eine unbestimmte Ahnung, die sie dazu trieb, sich zwischen den Zuschauern hindurchzudrängen, die ärgerlich knurrten und sie in die Seite stießen. Weit schaffte sie es nicht. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen.
Indigofarbenes Haar wehte im Wind. Der Verurteilte war groß. Sauber rasiert, das Gesicht düster und beherrscht, die Augen jedoch unter einer Binde verborgen. Er trug ein ordentliches Hemd, zwar geflickt, doch ohne Flecken. All das sah Janna für die Dauer eines harten Herzschlags, dann schloss sich vor ihr die Reihe der Zuschauer. Nein, das hast du nicht gesehen. Nein, das ist nicht wahr . Sie schrie und schlug einem Mann gegen die Schulter, doch er stieß sie zurück. Sie kämpfte sich seitwärts. Eine Lücke tat sich auf; sie warf sich mit aller Kraft hindurch. Plötzlich stand sie allein in vorderster Front. Ein Gewehrkolben wurde so heftig gegen ihre Brust gestoßen, dass sie sich atemlos krümmte. Jemand packte sie an den Schultern und zerrte sie zurück in die Menge. Wieder wollte sie schreien, doch es kam nur ein verzweifeltes Krächzen aus ihrer Kehle. Vor ihren Augen tanzten zahllose winzige Sterne, wegen des Schlags oder ihres Entsetzens – sie vermochte es nicht zu unterscheiden. Zugleich explodierte der Donner aus einem Dutzend Karabiner in ihrem Schädel. Sie sah den kräftigen Leib erbeben, bevor sie selbst zitternd niedersank. Über der Schulter Arturos, auf dem zarten Rosa der Kirchenwand, erschienen wie ein Menetekel zwei lange rote Striche. Dass sich auch sein Hemd rot färbte, konnte sie nur noch erahnen, während Dunkelheit sie packte.
6. Kapitel
Sie tauchte den Pinsel ins Wasser, drehte ihn im Gelb des Tuschkastens und trug die Farbe mit einer schnellen Bewegung aufs Papier. Viel zu nass; zwei Tropfen bildeten hässliche Schlieren. Aber das störte sie nicht. Sie zog Kreise und Wellen auf dem goldenen Fluss; die Bäume bogen sich umbrafarben im Wind, und von düsterem Blaugrau waren die sich auftürmenden Wolken. Der Pinsel fuhr durch ein Gewirr von immer schmutziger werdenden Farben und dunklen Linien. Ein Gewitter tobte jetzt auf dem Fluss. Bald glaubte sie das erdige Wasser zu riechen. Die würzige Luft. Den Moder der Wurzeln und den schweren Duft der Blüten. Ich will zurück, ich will zurück
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