An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
mein Dorf zurück», antwortete er. Der Tag, an dem er seiner Mutter dankbar sein sollte, war nie gekommen. Schon gar nicht würde der Tag jemals anbrechen, an dem sie oder der Vater ihn holen käme. Er war in diesem Teil des riesigen Orinocodeltas zu einem neuen Leben geboren worden, um unter Mönchen, Warao, Sklavenjägern, Händlern und Schlangen und Krokodilen groß zu werden. Aber da war noch immer der Traum, der Mutter und dem Bruder ihren Verrat an den Kopf zu werfen. Er hegte ihn wie einen unsichtbaren Schatz.
Was Ángel wohl tat? Bestimmt war er ein großer Jäger geworden. Ein Krieger. Er war mutig und dreist. Deshalb war Arturo ja so wütend auf ihn. Weil er der Mutter stumm zugesehen hatte.
«Ich laufe weg», sagte das Warao-Mädchen.
Das tat sie. Drei Tage später brachte jemand ihre von einem Krokodil angenagte Leiche zurück. Arturo hob ihr Grab aus.
«Sie war wie ein Tier und ist wie ein Tier gestorben», sagte Frater Christoph. «Du bist wenigstens gehorsam.»
Das änderte sich mit der Zeit. Arturo flüchtete, um zu jagen und die Gegend zu erkunden. Aber er kehrte immer zurück und nahm die Prügelstrafen hin. Einmal fing ihn ein fremder Karibe, ein großer Krieger, und brachte ihn zurück, nachdem er ihn halb totgeschlagen hatte – Arturo war es nicht gelungen, ihm begreiflich zu machen, dass er gar nicht vorhatte, auf immer wegzulaufen. Ein andermal brachte er Tage in einem Piratennest zu, unter Weißen, weil er es zufällig auf seinen heimlichen Streifzügen mit einem gestohlenen Kanu entdeckt hatte. Aber ihr erbärmlicher Gestank, ihre Sauferei, ihre Schlägereien untereinander und dass sie ihn dort ebenfalls zum Arbeiten gezwungen hatten, hatten ihn schnell wieder das Weite suchen lassen. Seine Befürchtung, dieser Ausflug würde die schlimmste aller Prügel nach sich ziehen, bewahrheitete sich nicht. Er glaubte etwas wie Furcht in Frater Christophs Augen zu lesen. Es gefiel ihm. Er hatte etwas, worauf er stolz sein konnte: woanders als hier überleben zu können. An einem schlimmeren Ort, und wenn es nur für ein paar Tage war.
«Diese Leute, sie kommen um Gold hierher», erklärte Frater Christoph. «Seit Jahrhunderten laufen sie der Sage von El Dorado, dem goldenen Mann, hinterher. Der war der Herrscher eines Indiovolkes weit im Osten in den Anden. Er fuhr auf einem mit Gold beladenen Floß auf einen Bergsee, und sein Körper war mit Goldstaub überzogen. Als Opfer für einen heidnischen Götzen warf er alle Schätze ins Wasser und badete selbst darin. Alles Gold sank auf den Grund.»
Es war eine der seltenen Unterrichtsstunden, in denen Arturo nicht müde oder lustlos war. Eine der wenigen, in denen er den Mund aufbekam.
«Wo ist dieser See?»
«Niemand weiß, wo das sein soll, dieses Eldorado. Niemand hat es je gefunden. Aber Tausende sind bei dem Versuch ins Verderben gestürzt. Sie glauben, Gold bedeute Macht. Glück. Ein Leben ohne Sorgen.»
«Ist das so?»
Der Frater wiegte den kahlen Kopf. «Nein. Höchstens in den Händen von Männern, die wirklich damit umzugehen wissen. Die Kirche hat viel Gold, die Herrschenden im spanischen Mutterland auch. Aber ansonsten sind verständige Männer rar gesät. Den Wunsch nach Gold zu verspüren ist noch nicht verwerflich. Aber sobald man versucht, ihn zu erfüllen, führt einen der Weg leicht in die Hölle. Man soll nicht begehren Gold und Silber, sagt die Schrift. Sie sagt aber auch, der Grund ist der himmlische Herr, und ob einer darauf Gold, Silber, Edelsteine, Holz oder Stroh baut – alles muss am Tag des Jüngsten Gerichts durchs Feuer. Bleibt sein Werk bestehen, so empfängt er Lohn. Es kann aber auch alles verbrannt werden. Du bist neugierig, ja?»
Arturo war unruhig. «Ja, Frater.»
«Dass ich dich mal zum Zappeln bringe …» Frater Christoph lachte und tätschelte ihm den Hinterkopf. «Pass auf, ich erzähle dir noch etwas. Vor zweihundertsiebzig Jahren kam ein Mann hierher. Kannst du dir unter dieser Zahl etwas vorstellen?»
Arturo nickte. Ungefähr.
«Er war der letzte Überlebende einer Gruppe, die Gold gesucht und gefunden hatte. Die anderen hatten bereits den Lohn für ihr Streben geerntet, nämlich den Tod. Er hatte es irgendwo versteckt und kämpfte mit einem Fieber. Hier schrieb er einen Brief an die Welser. Und starb danach. Es ist schon viele Jahre her, da fand ich diesen Brief in einem alten Eisenkasten verwahrt.»
«Was ist ein Brief?»
«Eine Notiz an jemand anderen.»
«Was ist eine Notiz?»
«Eine
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