An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
stürzte regelrecht auf Janna zu, half ihr auf und bot ihr den Arm. Was nicht nötig war, denn Janna ging mit kräftigen, undamenhaft langen Schritten ins Haus.
Er zog sich in sein Schreibzimmer zurück, holte Briefpapier und Gänsekiel aus der Schublade des Schreibtisches und setzte einen Brief an Hinrich Sievers auf, in dem er ihm die glückliche Nachricht verkündete, dass die verschollene Tochter wieder zurück unter den Lebenden weilte. Dann einen zweiten an Seine Exzellenz de Uriarte, in dem er ihn und seine Gattin für den nächsten Tag zum Tee einlud. Die Überlegung, ihn zu bitten, er möge sich nach einem Mann umhören, der Arturo hieß, verwarf er. Es war aussichtslos, wenn man dessen Vatersnamen nicht wusste. Reinmar drehte den Kiel zwischen den Fingern. Was wollte er überhaupt tun, sollte dieser Mann ausfindig gemacht werden? Ihm danken? Oder ihm den Hals umdrehen?
***
Während Janna auf einem Toilettenstuhl saß und Frau Wellhorn ihre Haare auskämmte, betrachtete sie die sonnengebleichten Papiertapeten, die weiß lackierte Tür, die zur Galerie über den Innenhofkolonnaden führte, den stoffbespannten Paravent und das schlichte Ameublement aus dunklem Holz. Es war ein schönes luftiges Zimmer, in dem, so hatte Lucila erzählt, die junge Tochter des vorigen Besitzers geschlafen hatte. Die erste Nacht war – entgegen Jannas Erwartung, in einem so feinen, weichen Bett gar nicht mehr schlafen zu können – wunderbar erholsam gewesen. Ganz zu schweigen von dem gestrigen Bad in der eigens in der Küche aufgestellten emaillierten Wanne. Ana, die mulattische Köchin, hatte eine ganze Kanne erwärmte Stutenmilch ins Wasser gegossen. Obwohl das fast schon als ein Bad à la Beau Brummell gelten konnte, glaubte Janna immer noch, würzige Flusserde an ihrer Haut wahrzunehmen.
Welche Bilder wohl hier an den Wänden gehangen hatten? Traurige viereckige Schatten erinnerten an vergangene Zeiten. Ihr tat es in der Seele weh, ihre Zeichnungen nicht mehr zu haben. Sie hätte sie alle einrahmen und hier aufhängen lassen.
Oder hätte sie sich damit nur mehr gequält? Du musst das vergangene halbe Jahr hinter dir lassen , ermahnte sie sich, nur um sich sogleich trotzig zu fragen: Warum eigentlich?
«Wollen Sie das barbarische Ding wirklich heute Abend tragen, Fräulein Janna? Das passt doch nicht, und dann diese speckige Lederschnur! Wo haben Sie das eigentlich her?»
Janna schloss die Finger um das goldene Inka-Dreieck. Es war wohl doch besser, es irgendwo zu verwahren, statt sich damit zu schmücken. Auch der Bürgermeister und seine Frau würden fragen, und sollte sie allen Ernstes verraten, dass dieses Stückchen Gold Teil des Lösegeldes von Atahualpa gewesen war? Man bestürmte sie ja ohnehin von allen Seiten mit Fragen. Man musste das nicht noch herausfordern.
«Ich habe es geschenkt bekommen», antwortete sie. «Von einem … einem Indio.»
Frau Wellhorn japste nach Luft. «Ein Indio! Womöglich noch ein wilder mit Knochen im Gesicht?»
«Nun ja, so ähnlich. Bloß ohne Knochen.»
«Und was war er?»
«Ein Vagabund.»
«Bei Gott!» Frau Wellhorn legte den Kamm beiseite und drehte den Zopf zu einem Chignon, den sie an Jannas Hinterkopf befestigte. Lediglich an den Schläfen behielt sie zwei dicke Strähnen zurück. «Wo bleibt denn das Mädchen mit dem Lockeneisen? Ah, da ist sie ja. Jetzt aber schnell!» Während Lucila die Strähnen in hüpfende Locken verwandelte, kramte Frau Wellhorn in den Tiefen des Kleiderschrankes. Sie war so streng und mäkelig wie zuvor, und doch war sie nicht mehr die Alte. Als sie Janna wiedergesehen hatte, war Frau Wellhorn wie aus einem langen bleiernen Schlaf erwacht. Und die Phase des Aufwachens, wenn man noch in einem bösen Traum gefangen war und verwirrt und wankend die ersten Schritte tat, schien bei der alten Anstandsdame noch anzuhalten.
Aber sie lebte, Gott sei es gedankt, sie lebte. Auf Jannas Frage, ob Reinmar etwas von Pastor Jensen gehört hatte, hatte dieser stumm den Kopf geschüttelt. Kapitän Vesterbrock hingegen hatte es tatsächlich auf die Pinasse und ebenso nach Angostura geschafft. Er war mit finanzieller Unterstützung des Bürgermeisters längst wieder nach Hamburg aufgebrochen. Auch von einigen Leuten des Schwesternschiffes hatte er gehört – alle hatten sich wieder in die Winde zerstreut.
Hamburg … In Janna krampfte sich alles zusammen, wenn sie nur daran dachte, wie es ihrer Familie ergangen war, als sie von Reinmar die schreckliche
Weitere Kostenlose Bücher