An diesem einen Punkt der Welt - Roman
JessasMariaundJosef, die heilige Familie, vollkommene Geborgenheit, nur zu.
Jeder kann so was brauchen. Und zwar dringend.
Kennst Du die persische Religion der Bahai, lieber Lukas? Nein? Ich auch nicht, ich weiß nur, dass es sie gibt. Aber ich nehme an, wenn man sich da genügend hineinsteigert, findet man die Erfüllung. Sie haben sicher alle die notwendigen Regeln, Riten und Mythen, damit das klappt. Was ich damit sagen will? Etwa: Buddha ist auch ziemlich okay.
Spricht das nun für die Existenz des „unbekannten“ Gottes oder nur für das Elend der Menschen? Ich weiß es nicht.
Tom
Sri Pada, schmale, himmeldrängende Spitze, bei Sonnenaufgang fällt ihr Schatten über Dschungelwälder und die Wellen von dunklem Grün, über Täler, Menschen und unsichtbare Hütten, über Tempel und Teegärten, fast bis ans Meer. Adam’s Peak nannten die Engländer den Berg im ehemaligen Ceylon, der vier Religionen heilig ist, den Buddhisten, Hindus, Muslimen und Christen. Das fiel Tom jetzt ein, als er noch einmal in die Küche ging, um sich neuen Kaffee zu holen, er lachte vor sich hin, es war die Zeit der wilden Reisen gewesen, mit einer Klapperkiste quer über den Kontinent, Persien, Afghanistan, Nepal, Indien, Sri Lanka. Drei Freunde, psychedelische Entgrenzung, alles in den Wind, ja, es gab ein Leben vor dem Graben. Es war das Jahr nach seinem Austritt aus der Comunità , eine Reise der Befreiung. Als sie zurückkamen, war er zum ersten Mal nach seinen Kindheitstagen wieder im Lamanderhaus gewesen: „Ah, die Ranch! Ich liebe sie!“, hatte er damals notiert.
Tom stellte eine neue Mausefalle unter die Kredenz. Die Türe in den Keller sperrte er zu. Sah den schwarzen Telefonhörer an, lange. Grübelte. Wie ist das, können wir fliehen oder bleiben wir verkabelt? Gibt es ein Ich oder bleiben wir Wir? Kopfschüttelnd stellte er sich die ausladenden Sammlungen des Vaters und die Kaufmanie der Mutter vor.
Da capo, sagte sich der Sohn.
Das bin auf andere Weise ich.
Auch er selbst war zugeschüttet mit Sammelwut.
Die Mutter sammelte Kaufhaustrash, den sie nie öffnete.
Der Vater Trommelschlägel, mit denen er nie spielte.
Er selbst sammelte Bücher, Aberhunderte pro Jahr.
Die meisten las er, die doppelten verkaufte er.
Viele speicherte er in seinem Kopf.
Das Gewicht der Welt auf ihm.
18
Wenn der Fürst durch Gewalt an die Regierung gekommen, ohne Zustimmung des Volkes, darf ihn der Staat auf jede mögliche Weise aus dem Wege räumen.
Tom war aufgescheucht. Endlich nahm er sich Zeit, in diesem Buch ausführlich zu lesen. Er hatte es auf einem Flohmarkt in der Wiener Praterstraße entdeckt, in der Gegend des ehemaligen Ghettos, wo auch sechs Jahrzehnte nach Kriegsende noch immer außergewöhnliche Exemplare zu finden waren, Echos der weitgestreuten Interessen von gebildeten Menschen, die nach Treblinka, Lodz oder Auschwitz deportiert und ermordet worden waren. Tom war damals inmitten der Bücherkisten ein kleines, schön gebundenes Buch aufgefallen. Es hatte eine fast quadratische Form, der Einband war dunkelgrün und schwarz gemasert, wie es im 19. Jahrhundert üblich war. Er wusste sofort, dass dieses Buch eine Entdeckung war. Nahm es in die Hand. Wärme, Glätte, Verlockung.
Machiavelli, Der Fürst
Mariana, Vom Könige und des Königs Erziehung
Hg. von Dr. Karl Riedel, Darmstadt 1841 und 1843
„Il principe“ von Niccolò Machiavelli kannte er, von Mariana wusste er wenig. Jetzt, im Vakuum seines Suchens nach einem neuen, interessanten Thema für seine Magisterarbeit, war Toms Neugier geweckt und er begann fieberhaft zu recherchieren:
Das Original wurde 1599 im spanischen Toledo veröffentlicht, ein Jahr nach dem Tod des Habsburgerkaisers Philipp II.; Juan de Mariana trat 1554 in den Jesuitenorden ein, lehrte in Rom und Paris, kehrte 1574 nach Toledo zurück und schrieb seine umfangreiche „Geschichte Spaniens“, die ihn berühmt machte. Seine Schrift über die Erziehung des Königs und das Recht auf Tyrannenmord rief die Inquisition auf den Plan und er musste sich vor dem Ordensgeneral Aquaviva verantworten, der sich vehement gegen das Buch aussprach. In Paris wurde es öffentlich verbrannt. Tom las sich ein. Fing Feuer.
Die Thematik war eine ideale Verbindung von Toms historischen, germanistischen und philosophischen Fragestellungen. Nächtelang diskutierte er mit Parmenides, der Griechen und Römer ins Spiel brachte, und mit Matthias, der sich fragte, ob Widerstand in der Demokratie überhaupt noch
Weitere Kostenlose Bücher