An diesem einen Punkt der Welt - Roman
wirksam werden könne, ob sie nicht ein Nährboden für Gleichgültigkeit sei. Aber sie waren aufmerksame Zeitgenossen und wussten um die Permanenz von Tyrannis in ihren vielen Formen. Sie hatten erhitzte Köpfe, die Fledermäuse flogen, die Weingläser waren leer und als irgendwann nach Mitternacht die Sirene des Dorfes Feueralarm über die Hügel schickte, sagte einer: alles Schall und Rauch, und sie wussten nicht, ob sie lachen sollten.
Die Theorien des Jesuitenmönchs berührten Toms eigenen Lebensentwurf. Alles, wofür er stand, war eine herrschaftsfreie Welt. Er wollte sie für andere schaffen helfen. Fühlte sich als Aufklärer, wie Mariana, nur im Kleinen, dennoch nicht Unbedeutenden. Es ging nicht um Mord, aber grundsätzlich um die Pflicht des Neinsagens. Möglich, dass die Wurzeln seiner Hellhörigkeit zurückreichten in die Gespräche mit dem Großvater über Adolf Hitlers Eliteschule NAPOLA, was auch seine späteren Studien über die missglückten Attentate auf Hitler angeregt haben könnte.
Und dann fiel plötzlich alles in eins, wie die Mosaiksteine eines Kaleidoskops: Tom wollte Juan de Mariana und Claus Schenk Graf von Stauffenberg unter dem Aspekt des Tyrannenmordes zusammendenken. Er ließ seine begonnene Arbeit über Peter Altenberg fallen, ließ ihn am Stammtisch der Bohemiens im Wiener Café Central sitzen, vertiefte sich in das Werk des spanischen Jesuiten und erweiterte dessen Wirkungsmacht in die Gegenwart.
Jetzt, wo die Ermahnungen durch die fragile Versöhnung mit dem Vater vorüber waren, nahm Tom noch einmal, ein letztes Mal, sein Studium aus freien Stücken wieder auf. Er wollte – musste? – es für Elisa tun. Es hatte flüchtige Szenen gegeben, von denen er später nicht wusste, ob es nicht sein schlechtes Gewissen war, das ihm solch nichtige Dialoge in die Erinnerung geschwindelt hatte.
Hast du die Wäsche von heute Früh aufgehängt, Tom?
Bin nicht dazu gekommen.
Aber ich hab dich gebeten darum.
Entschuldige.
Und du wolltest doch die nassen Bücher von den Eingangsstufen wegräumen?
Ich hab damit angefangen.
Du machst nie etwas fertig. Und apropos: Du wolltest doch Karin anrufen, um einen Therapeuten für eure Mutter zu suchen.
Hab sie nicht erreicht.
Hast sie wohl gar nicht angerufen?
Äh, ja, stimmt. Elisa, sei nicht bös mit mir. Morgen –
Wenn der Oliver so wär, käm er zu nichts.
Und der Reinhold wohl auch nicht.
Genau.
Schon angenehm, am Ersten immer sein Gehalt auf dem Konto zu haben –
Es ist ja für dich , Tom!
Schon gut.
Aber tu endlich etwas dafür!
Mit dem Thema Mariana-Stauffenberg machte sich Tom auf nach Wien, wo er einen aufgeschlossenen, jungen Professor fand, der an Ideengeschichte interessiert war und in der neuen Studienordnung zeit- und grenzübergreifende Projekte akzeptieren durfte. Emanuel Karlinger war von der Thematik begeistert, zudem war Mariana ein kaum beschriebenes Blatt in der Wissenschaft, also frei für eigene Überlegungen. Das reizte beide.
Stauffenberg faszinierte Tom seit seinen frühen Studienjahren. Welch ungeheures Unterfangen! Ein Kriegskrüppel, der 1943 bei einem Tieffliegerangriff in Nordafrika unter Feldmarschall Rommel sein linkes Auge verloren hatte und dem die rechte Hand und zwei Finger der linken Hand amputiert werden mussten: Dieser Krüppel stand auf gegen einen der unfassbarsten Tyrannen der Geschichte und dessen totalitären, tödlichen Machtapparat. Tom war belesen genug, um zu wissen, dass Stauffenberg nur die Spitze eines komplizierten Widerstandsapparates war, in dem sehr unterschiedliche Motive Gestalt gewannen.
Die erste deutsche Übersetzung von Marianas Schrift erschien fast 250 Jahre nach der Originalfassung, 1841/43 in Darmstadt – eines der seltenen Exemplare davon hielt Tom jetzt, noch einmal mehr als eineinhalb Jahrhunderte später, in Händen. Er liebte diese Mäander des Denkens, die in Büchern festgeschrieben sind. Es gab einleuchtende Verbindungslinien zum Hitler-Stauffenberg-Komplex: In einem Umfeld doppelter absolutistischer Machtstrukturen von Staat und Kirche hatte es Mariana – wenn sich Tom nicht täuschte, als Erster in der Moderne – gewagt, eine detaillierte und drastische Theorie des politischen Tyrannenmordes aufzustellen und ihn sogar als Pflicht zu postulieren.
Schreib lieber einen Krimi mit Tyrannenmord, schlug Roberta vor, als Tom wieder einmal über Nacht in der Dachkammer im Oberdorf blieb.
Würde ich gern, kann ich aber nicht.
Versuch es, es würde dir auch
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