An diesem einen Punkt der Welt - Roman
einer Spitzkehre dann, im Umdrehen des Kopfes, die seltsame Erscheinung: Ein gleißendes Licht steht über einem Gehöft tief unten im Tal, eine Mandorla, innen goldgelb, zum Rand hin in hellerem Gelb, dann grünlich weiß, steht unverändert und schaurig schön, wie des Schicksals Segens- oder Strafstrahl über einem Haus, einem Menschen.
Elisa summt leise eine Melodie, Tom schweigt.
Es ist ein gutes Schweigen.
Atmen, gehen, sich mühen, Schritt vor Schritt vor Schritt, atmen …
Aufmerksamkeit für die Zeichen am Weg.
Die hellbraunen Buchenblätter, die abwärtsrollen, rascheln leise, sie sind aufgebogen wie Spielschiffchen für Kinder, in den Mulden bleiben sie liegen. Hasenspuren, tiefe Tritte von Wild, Schleifspuren des Körpers. Kurze, gebogene Zweigspitzen liegen wie ein verstreutes Alphabet auf der Schneedecke, sie schreiben ein S, ein Ypsilon, ein Lambda und ein Omega. Vogelstimmen, Himmelsheiterkeit. Schneeschleier fallen von den Ästen, kühler Schauer im Gesicht. Eine Zirbe ist vom Blitz getroffen, wie eine Wunde winden sich die Spuren spiralenförmig in der Rinde zu Boden. Der Wind hat einen anderen Ton in den Fichten, einen anderen in den Föhren und wieder einen anderen in den kahlen Ästen des Bergahorns. Er zeichnet Muschelschraffuren in den Pulverschnee, Mäander in den Firn. Grau ist das Holz der Almhütte unter den Traufen, bernsteinfarben an den Südseiten.
Rast auf der Hüttenbank.
Dann wieder gehen.
Atmen. Gehen. Schauen.
Nur Elisa und Tom in der Weite der Welt.
Sich nahe wie schon lange nicht.
Auf dem Gipfel fallen sie in eine erschöpfte Umarmung.
Aufrauschen des Lichts, Helligkeit bis ins Herz.
Die ersten Soldanellen im Geschützten, dunkellila.
Taugerinne an den Sonnenfelsen, schmelzende Härte.
Zu Hause Dusche, Liebe, Debreziner.
17
Was sagst du, Thomas, soll ich lesen?
Das Gewicht der Welt.
Wessen Gewicht?
Der Welt.
Von wem?
Von Peter Handke.
Ist das neu?
Nein, schon mehr als zwanzig Jahre alt.
Ein Roman?
Ein Journal.
Ist das nicht langweilig?
Überhaupt nicht. Du liest doch gerne Tagebücher.
Ja, schon.
Außerdem ist er Kärntner.
Das ist mir nicht wichtig.
War aber nicht immer so.
Aber Menschen können sich ändern.
Auch Toms Vater war dabei, sich ändern zu wollen.
Ludwig N. rief jetzt öfter an. Das war überraschend. Undenkbar in den Jahren zuvor. Es war Elisa, die beide passabel versöhnt und Tom gedrängt hatte, die Anzeichen einer Annäherung anzunehmen. Alle sechs, acht Wochen waren sie jetzt zu Gast in der großelterlichen Villa am Weißensee, die der Vater nach seiner Pensionierung bezogen und in der Tom glückliche Kindheitsjahre verbracht hatte.
„Das Gewicht der Welt“ also. Tom hatte das Buch als Siebzehnjähriger gekauft und bis heute mit Anstreichungen und Anmerkungen versehen („Das einzige wirkliche Lebendigkeitsgefühl: Teilnahme!!!“). Vater und Sohn redeten. Stritten mitunter. Streiten ist besser als Schweigen, sagte Elisa. Ludwig N. war ein vielseitiger Mann. Als passionierter Jäger sammelte er Zeichnungen von Gämsen und besaß eine angesehene Sammlung wertvoller Blätter. Er sammelte Zirkel jeglicher Art, ein Nachhall seiner Profession als Geometer. Schließlich Trommelschlägel aus allen Kulturen der Welt. Sie waren bloßes Registrierungsgut. Aber seit der Vater nach dem Tod seiner Eltern alleine in der Seevilla lebte und seine geschiedene Frau nördlich an der Donau immer tiefer in ihrem Kaufwahn versank und den Anschluss an ihr einstiges reiches Leben als Musiklehrerin, sprühende Entertainerin und dynamische Mutter ihrer beiden Kinder verlor, war er auf der Suche. Er war jedenfalls dabei, sich neu zu orientieren.
*
Ludwig N., so definierten es Toms enge Freunde, war ein Despot. Das Credo seiner Erziehung war Disziplin. Er hatte sie selbst gelebt und sie von seiner Umgebung gefordert. Strenge Reglementierung. Wenn er auf Reisen war, hatte die Mutter den Kindern jede Freizügigkeit erlaubt, es war ein Fest. Als begeisterter Sportler war Ludwig N. auf Leistung ausgerichtet, auf Sieg. War ein großer Wanderer und Heimatliebhaber und sagte: Das lass ich mir durch die Verherrlichung unter Hitler nicht kaputt machen. Da er seine Lebensform den Kindern aufzuzwingen suchte, lehnten sie sie ab, Karin stillschweigend, Tom vehement und streitbar, er hasste die Prinzipien des Vaters. Als Ludwig N. später sah, dass Tom seine Anlagen verschleuderte und nur mehr so wenig gefehlt hätte zu einem Titel, einer Berufschance, einem
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