An diesem einen Punkt der Welt - Roman
Oliver noch weggefahren und komme erst spät heim.
*
Großes Faschingsfest. Manchmal braucht man Verkleidungen, sagte Tom, als Elisa in der alten Truhe im Austragzimmer nach Kleidern suchte. Sie fand eine etwas zerbeulte Goldhaube und ein schwarzes Festtagsdirndl aus Taft, so ging sie als Bäuerin. Die Tracht stand ihr gut. Parmenides begrüßte sie als legitime Hausherrin des Lamanderbesitzes und überreichte ihr einen Laib Brot und ein Leinenbeutelchen mit Salz, was Glück, Gedeihen und Würze symbolisiert. Parmenides selbst erschien als Stier, Roberta als Europa und alle lachten. Matthias kam als Mönch – er sah in der Kutte, mit seinem schmalen, strengen Gesicht und dem dunkelblonden Kraushaar, das er mit Gel geglättet hatte, so gut aus, dass alle der Meinung waren, das wäre die richtige Profession für ihn, besser jedenfalls als Journalist für erotische und geographisch-kulturelle Zeitschriften. Mikram, seine Frau und die beiden Kinder gaben sich als Zirkusdirektor mit Dompteurin und Trapezkünstlern, Franz vom Riedlhof war ein Sauschlachter, Lucia war Mutter Teresa und Dominik selbst Kurt Cobain. Er hatte überlegt, als Nemesis zu erscheinen, Parmenides hatte ihm von ihr erzählt, dieser griechischen Göttin der Rache, die zugleich die Hoffnung auf Gerechtigkeit symbolisiert, aber als Frau wollte er dann doch nicht kommen. Dominiks Vater, Florian, stand ohne Kostüm da, er hasste Verkleidung. Auch Tom blieb, wie er war – er klebte sich nur den Titel einer Collage der Dada-Künstler Max Ernst und Paul Éluard auf ein Stirnband,
DER FLÜCHTLING
Und Elisa schrieb mit rotem Permanentmarker den Beginn des zugehörigen Textes auf ein altes weißes T-Shirt:
ER HATTE ES VORGEZOGEN EHER ZU
ERTRINKEN ALS ZU UNTERZEICHNEN
Reinhold trug die Tarnuniform eines Soldaten, Oliver verkleidete sich als Formel-1-Rennfahrer mit der Startnummer von Michael Schumacher. Er tanzte und trank viel mit Elisa.
Als es gegen Morgen still wurde im Haus, legte sich Tom dick zugedeckt in sein Verandabett. Er hörte leises Tropfen. Der Föhn war in der Nacht übers Gebirge gefallen und ließ den Schnee auf den Schindeln schmelzen. Tom dachte über die Bewegung des Zusammenfindens und Entgleitens zwischen den Menschen nach, der Anziehung und Abstoßung, wie es Goethe nach den Gesetzen der Chemie in seinen „Wahlverwandtschaften“ beschrieben hatte. Tom blieb beim Zusammenfinden. Bevor er einschlief, sah er noch der schmalen Mondsichel zu, wie sie die Silhouette eines Baumes fraß.
*
Schatten seit Monaten. Schatten bis in die Knochen. Unter der Eisschicht des Baches trieben Luftperlen über bemooste Steine und verfingen sich im Kehrwasser, wo sie kreiselten, bis sie platzten. Das Dach des Wagenschuppens war mit dem Erdboden verwachsen, so hoch lag der Schnee. Kälte. Es gab nur Weiß und Schwarz. Der Himmel im durchscheinenden Winterkälteblau. Aber an den Südhängen begann es zu tauen.
Ein Tag für die Berge.
Ein Tag für Sonne, Licht und Losgelöstheit. Erste Langläufer zogen ihre Runden. In Bodennähe lag Nebel, so dass die Sportler wie Schemen ohne Beine in der Spur liefen, surreale Rumpfgestalten einer Geisterwelt. Die Liftanlagen der Gondelbahn waren noch nicht in Betrieb. Nur zwei Autos standen auf dem Parkplatz am Ende des Sackgassentales. Elisa hatte Tom zu Weihnachten ein neues Paar Tourenskier geschenkt, ihres war noch tauglich. Sie spannten die Felle auf und schulterten die Rucksäcke.
Über Bauernwiesen zunächst.
Aus den Schornsteinen der Höfe steigt Rauch. Eine Kuh brüllt, ein Traktor bringt die Milch in das Tal. Das Schauspiel des sich lichtenden Nebels, wie er die Landschaft verändert, mit ihr spielt, Berge, Hügel und Wälder wegwischt, sie dem Blick entzieht wie nie gewesen, sie ihm wiederschenkt nach Lust und Luftzug, der große Kreator der Veränderung. Und plötzlich Sonne. Die scharfe Grenze zu Licht und Blendung, als ob Helios hier abgestiegen wäre. Dem eigenen Schatten nachfolgen. Knirschen und Schleifen der Skier in der Aufstiegsspur, sanftes Einsinken der Stöcke in weichem Schnee, Atem. Eine Pistenraupe brummt in der Ferne. Der Orkan des vorletzten Jahres hat meterhohe Wurzelstöcke ausgerissen, seitlich liegen sie zwischen den überlebenden Bäumen, Steinbrocken und ausgedörrte Erde in ihren Höhlungen, Moose und immergrüne Hirschzungen wachsen in ihrem Schutz, kleine Büsche, die vertrocknete Beeren tragen. Unter den Wetterfichten sind schon apere Stellen. Duft von Erde steigt auf. An
Weitere Kostenlose Bücher