An diesem einen Punkt der Welt - Roman
öffneten, im Zeugkasten kramten. Dicker Staub überall, aber immer noch der Geruch von rohem und bearbeitetem Holz, von Fetten und Ölen, von mühevoller Arbeit. Zähne von Heurechen lagen geschnitzt auf dem Fensterbrett, glatt poliert. Auf der Hobelbank waren Schindeln gestapelt. Alles Zeugnisse von Fleiß und Sorgfalt, von gelebtem Leben, es hatte etwas Schönes und zugleich etwas von faulen Mostbirnen, die achtlos von einem Leiterwagen überrollt werden.
Plötzlich spürte Dominik Toms Entsetzen. Tom hatte nicht gerufen, nicht geschrien, nichts gesagt. Aber wie eine Druckwelle erreichte Dominik dieses Entsetzen im Rücken, im Nacken. Er drehte sich um, schaute zum Freund. Der stand vor einer offenen Lade, in der Nägel, Schrauben und Muttern durcheinander lagen, und zog unter einer kleinen Kiste mit verschiedenen Schmierölen etwas Schwarz-Orangefarbenes hervor. Entfaltete es und drehte es herum, wieder und wieder. Eine Art wolliger Strumpf mit ausgeschnittenen Augen. Schaute das weiche Ding ungläubig an. War kalkweiß im Gesicht. Leuchtend orangefarbene Flecken waren auf das Schwarz genäht.
Tom kannte die Geschichte. Von Roberta und seiner Mutter. Sie hatte die Geschichte erzählt, um ihn und vor allem Karin abzuschrecken, allzu weit weg vom Haus zu spielen, hatte viele Andeutungen gemacht, aber von der Maske so plastisch erzählt, dass die Kinder sie vor sich sahen wie wirklich und sich gruselten vor dem Mord an Anjuschka.
War es also doch der Sepp, der Bauer vom Riedlhof, der Vater von Franz? Er war verdächtigt worden damals. Aber nein, der Sepp doch nicht, hieß es, hat die Mutter erzählt, doch nicht der Sepp. Ist ein angesehener Bauer geworden, war Bezirksbauernvertreter, ein guter Mann für Christl, seine Frau, auch ein guter Vater für die beiden Buben.
Dominik kannte die Gerüchte nur flüchtig, er war schon die übernächste Generation. Es interessierte ihn auch nicht sehr, nur die Maske war ihm als Schreck präsent. Die älteren Leute hatten so viel von der Nachkriegszeit erzählt, irgendwann hatte er nicht mehr zugehört. Er sah im Fernsehen und in den Zeitungen die Bilder der aktuellen Kriege, täglich Krieg irgendwo, überall heute. Dominik wollte keinen Krieg. Er wollte leben.
Tom nahm den jungen Mann an beiden Händen. Schaute ihn durchdringend an und sagte: Dominik, du weißt, was das ist. Es ist vorbei. Der, der es vielleicht – tatsächlich nur vielleicht! – getan haben könnte, ist tot. Sein Sohn trägt keine Schuld an dem Verbrechen. Es gibt keine Erbschuld, nur du allein bist verantwortlich für deine und ich für meine Schuld. Das bleibt vorläufig unter uns, es bleibt unser Geheimnis. Ich muss mich auf dich verlassen können, hörst du, zu niemandem ein Wort, solange Franz lebt!
Tom steckte die schwarz-orangefleckige Gesichtsmaske in seine Hosentasche. Im Rucksack hatten sie ein paar Geräte verstaut. Bevor sie gingen, packte Dominik sie wieder aus und legte sie hastig zurück in den Staub.
Tom war schweigsam auf dem Heimweg. Sah stur auf den Weg, auf die Spitzen seiner Schuhe, trat schwer auf die Erde. Haderte. Kämpfte. Schrie plötzlich auf, dass Dominik erschrak. War das die Wahrheit? Die oder eine Wahrheit? Eine mutmaßliche? Wie viele gab es? Seine Prinzipien über den Haufen werfen? Schweigen? Sepp war schon lange tot, Franz würde es bald sein.
Im Graben, dort, wo der Wald am dichtesten ist, machten sie Feuer.
Tom nahm die Salamandermaske aus der Hosentasche.
*
Es war stockfinster, als sie das Lamanderhaus erreichten. Sie tranken heißen Tee, sprachen wenig. Dann brachte Tom Dominik mit dem Auto heim. Kurz vor dem Haus sagte Tom, konzentriert auf die Straße schauend: Schönen Gruß an deine Eltern. Ich fahr jetzt dann noch einmal zu Franz und bring ihm die Maske –. Der Junge schwieg. Auch als der Wagen hielt und der Motor im Leerlauf war, machte Dominik keine Anstalten, auszusteigen. Dann drehte er sich langsam zu Tom, legte ihm die Hand auf das Knie und sagte: Ich bin froh, dass du das machst, Tom. Gute Nacht.
Auf dem Weg zurück zu Franz war Tom immer noch aufgewühlt. Die Augenblicke der letzten Stunde kamen wieder, er sah alles vor sich, wie es gewesen war –
– sie stehen am Feuer, das Holz ist feucht, es brennt nicht gut, an diesen Ort kommt keine Sonne, es ist November, kalte Feuchtigkeit überall, sie blasen und schüren, suchen nach trockenen Zweigen, gewonnene Zeit für die wilde Jagd widerstrebender Gedanken. Tom greift nach Lianen, wirft Steine
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