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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brita Steinwendtner
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in den Bach, das Grabengefühl sickert in ihn ein, steigt in den Kopf, setzt sich als Verengung fest, schüttet ihn zu und dann hört er plötzlich eine junge Stimme, die Hey, Tom ruft, im glosenden Feuer gibt es einen kleinen Knall, etwas ist zersprungen, eine Haselnuss vielleicht, und Tom sieht auf, sieht, wo er ist und was er im Begriff ist, zu tun, er geht auf die helle Stimme zu, sie besprechen sich kurz, löschen die Glut und verlassen den Ort –
    Sie haben die Maske nicht verbrannt. Es wäre gegen alles gewesen, wofür Tom stand und worin ihm Dominik nachzufolgen trachtete: sagen und leben, was ist.
    Franz saß unverändert am Küchentisch, als Tom wiederkam und die Maske vor ihm ausbreitete. Ich hab’s gewusst, sagte Franz. Ich hab sie am Lichtmesstag im vorigen Jahr gefunden. Das weiß ich noch, dass es dieser Tag war, denn das war immer ein besonderer Tag für uns, früher, wenn die Dienstboten gewechselt haben. Hab den Fetzen Stoff wieder hingetan, wo er war. Gut, dass es jetzt ans Licht gekommen ist, das hat seinen Sinn. Gehen wir.
    Der Gendarmerieposten im Dorf war unbesetzt, so fuhren sie nach Kolness. Postenkommandant Max Gerbert hatte Dienst. Das war ein glücklicher Zufall, Gerbert war ein verständiger, älterer Mann, er stammte aus dem Dorf und kannte alle Details der Geschichte, sie war ja noch lange am Schwelen gewesen. Ein zackiger junger Streifenpolizist betrat den Raum, besprach sich kurz mit Gerbert im Nebenzimmer und fuhr mit Blaulicht wieder weg. Franz saß steif auf dem Sessel gegenüber dem Schreibtisch, Schweißperlen rannen über sein aufgedunsenes Gesicht. Die Hände presste er zwischen die Knie, um ihr Zittern zu stoppen. Tom saß neben ihm, sprach von Zeit zu Zeit leise auf ihn ein.
    Es dauerte eine Weile, bis der Kommandant zurückkam, einen dicken Aktenordner unter dem Arm. Setzte sich, blätterte lange ohne ein Wort in den Papieren. Franz verfiel, sein Rücken krümmte sich, er musste auf die Toilette. Setz dich nur wieder hin, sagte Gerbert, und brachte dem Riedlbauern ein Glas Wasser. Franz trank hastig, verschluckte sich, hustete, Tom klopfte ihm auf den Rücken.
    Es ist nicht so, wie ihr denkt. Gerbert lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah sie beide an. Es ist nicht so. Er war gewöhnt, seine Sätze doppelt zu sagen, damit alles klar war und später niemand sagen konnte, er habe sie nicht gehört.
    Ja, der Sachverhalt ist also folgendermaßen … Das wird dich erleichtern, Franz.
    Franz stand kurz auf, als ob er Haltung annehmen wollte, fiel zurück auf seinen Stuhl. Schob mühsam den speckigen Ärmel seiner Leinenjoppe zurück und sah auf die Armbanduhr, als ob er sich davon Hilfe verspräche.
    Ruhig und sachlich sagte der Kommandant: Es ist also folgendermaßen. Das Verfahren, das deine Großeltern, Tom, damals in die Wege geleitet haben, ist wegen Mangels an Beweisen nach einem Jahr eingestellt worden. Es war ja immer noch Nachkrieg, jeder hat schauen müssen, dass er überlebt, die Leute haben andere Sorgen gehabt. In allen Familien so viele Tote. Dann ist über alles Gras gewachsen. Bis 1994. Da hat eine Witwe, den Namen darf ich nicht nennen, eine Maske zu uns gebracht. Sie hat der Beschreibung des Kindes Sieglinde entsprochen. Die Geschichte war also noch lebendig. Und ein Jahr später kam ein junger Mann mit einem ähnlichen Ding, das er beim Auflösen der Wohnung seiner verstorbenen Großeltern gefunden hat.
    Max Gerbert klappte den Aktenordner zu und stand auf, um sich zu verabschieden. Dein Exemplar, Franz, ist jetzt die dritte Salamandermaske.

22
    Karsamstag.
    Elisa war über die Osterfeiertage zu ihren Eltern gefahren, es hatte eine kleine Auseinandersetzung gegeben. Tom hatte geschrieben, getrödelt, gespielt und gesungen und getrunken, Gespenster und Chiffren, Überleben, wenn die Sicherheiten und die Träume fallen, es war dumpf im Zimmer, er öffnete das Fenster und da kamen sie,
    die Geschwader der Glocken,
    kamen über die Hügel, die Glocken aller Dörfer, alle Läutwerke der Welt, alle, außer dem Sterbeglöckchen, die Freuden- und die Hochzeitsglocken, die Alltags- und die Feiertagsglocken, die Bierringerin, die Brandglocke und die Dunna, die große, tiefe, schönste. Auferstehung. Es regnete, an den Bäumen glitzerten die Tropfenperlen, vorüberfahrende Autos löschten das Läuten im Rauschen des nassen Asphalts, aber die Glocken kamen wieder, es klang und dröhnte und schaukelte im Ohr, Schreie der Wildgänse vom Weiher, Karsamstag und die

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